Dienstag, 25. Juni 2013

Der Anfang von Allem

Vor einigen Monaten zeigte die ARD den Fernsehfilm "Unsere Mütter, unsere Väter". Bis kurz vor dem Sendetermin wusste ich nicht, ob ich mir das anschauen sollte / wollte.

Es gab mal einen Film über die Flucht aus Ostpreußen, mit Maria Furtwängler in der Hauptrolle einer Adligen, die mit all ihren Schutzbefohlenen nach Westen aufbricht. Bei so einer Frau war meine Großmutter "in Stellung", wie das damals hieß. Heute würde man Hausmädchen dazu sagen, und sie war wirklich noch ein Mädchen. Diesen Film wollte ich mir nicht antun.
Geschichten von der großen Flucht hatten meine Kindheit geprägt, und kein kleines Kind sollte sich so etwas anhören müssen. Alpträume und ständige Angst sind garantiert.

Diesmal aber war ich neugierig, und der neue Film hat mich und offenbar viele meiner Generation getroffen und lange beschäftigt. Den folgenden Text habe ich als Beitrag im FAZ-Leserforum geschrieben:

Meine Mutter war Jahrgang 1926, mein Vater ist 1927 geboren. Meine Mutter wuchs in einem kleinen Dorf nahe dem früheren Königsberg auf, mein Vater in Magdeburg.

Im Alter von 17 Jahren wurde der eine mit dem sogenannten letzten Aufgebot in den Krieg geschickt und die andere von der Roten Armee nach Sibirien verschleppt.

Sie begegneten sich mit Ende Zwanzig. Jeder heutige, einigermaßen psychologisch interessierte Mensch kann sich denken, dass zwei dermaßen an Leib und Seele verletzte Menschen nicht gut zu Ehepartnern und Eltern taugen. Natürlich sind sie dennoch beides geworden, sicher aus der Sehnsucht, endlich wieder ein normales Leben zu führen. Es ist nichts Gutes dabei herausgekommen.

Mein Vater hatte als Soldat das Glück gehabt, schnell in amerikanische Gefangenschaft zu geraten. Dennoch hat er in der kurzen Zeit davor unvorstellbar Schlimmes erlebt und nicht zuletzt seine Heimat verloren. Von der Gefangenschaft in Luxemburg erzählt er bis heute launige Geschichten. Die nicht so lustigen wurden lange nur angedeutet, aber ich sehe doch Szenen aus Erzählungen vor mir, wo er in frischen, sarglosen Gräbern nach seinem Onkel gräbt, um festzustellen, ob der beim letzten Bombenangriff umgekommen ist. Da war er sechzehn.

Meine Mutter war die Tochter eines überzeugten Sozialdemokraten, der ständig gegen Hitler angepredigt hat und die ganze Nazizeit hindurch schikaniert (jedoch nie verhaftet) wurde. So verlor sie ihr Stipendium für die höhere Schule, weil mein Großvater sie nicht zum Bund Deutscher Mädel anmelden wollte. In einer ironischen Laune des Schicksals wurde ausgerechnet ihre Familie für die Verbrechen des Dritten Reichs bestraft (und warum auch nicht?).

Eines Sommernachmittags wurde meine Mutter auf dem Heimweg von ihrer Ausbildungsstelle von der Straße weg verschleppt. Mit vielen anderen jungen Mädchen transportierte man sie in einem Viehwaggon nach Sibirien, um sie dort fünf Jahre lang in Kohlebergwerken schuften zu lassen. Was sie dort sonst erlebt hat - ich habe es mir oft ausgemalt, und es zerreißt mir heute noch das Herz. Erzählt hat sie nie etwas.

Ihre Eltern wussten bis zu ihrer Rückkehr im Jahr 1948 nicht, ob sie noch am Leben war. Meine Großmutter entkam mit einem Flüchtlingstreck aus Ostpreußen nach Norddeutschland. Was viele Menschen nur aus Filmen kennen, hat sie wirklich erlebt: sie musste ihre Mutter – meine Urgroßmutter – im hohen Schnee am Wegrand zurücklassen, weil diese zu schwach war weiterzugehen.

Ich bin 1958 in Frankfurt am Main geboren. Dort lebten meine Eltern zusammen mit den Eltern meiner Mutter; 1962 kam noch meine kleine Schwester dazu.

Die Jugend meiner Eltern im Dritten Reich hat unser ganzes Leben geprägt. Wir wuchsen in einer verdrehten Welt auf, denn schon von klein auf mussten WIR die Eltern sein, und unsere Eltern waren wie Kinder oder Kranke, die unendlich viel Zuwendung und Nachsicht beanspruchten.

Ich wurde groß mit der unausgesprochenen, manchmal auch ausgesprochenen Regel, dass meine Mutter so viel Schlimmes durchgemacht hatte, dass wir sie auf keinen Fall aufregen oder ärgern durften. Dieses Schlimme wurde nicht näher erklärt und dadurch umso bedrohlicher. Wir lernten, möglichst gar nicht da zu sein – uns tot zu stellen. Das funktioniert natürlich am besten, indem man sich das Fühlen ganz abgewöhnt. Dieses Verbot zu fühlen ist unser Familienerbe.

Als wir beiden Schwestern klein waren, war mein Vater noch ausgleichendes Element. Er war ein lustiger Papa, mit dem man wie mit einem Gleichaltrigen spielen und Unsinn machen konnte. Für ein kleines Kind ist das wunderbar. Mein Vater blieb allerdings dabei – seine Art, seine Jugend zu verarbeiten war die Weigerung, erwachsen zu werden. Leider war er nicht wie Oskar aus der Blechtrommel eine literarische Figur, sondern wäre im echten Leben als Vater gebraucht worden. Besonders, als meine Mutter anfing zu trinken.

Beides verzweifelte Versuche, den Schmerz nicht zu spüren.

Schon immer hatte ich das Gefühl, dass ich nicht hier in Frankfurt, sondern in einem  verlorenen Paradies zu Hause sei. Ich hatte Heimweh nach einer Landschaft, die ich nie gesehen hatte: nach dem Dorf am Frischen Haff, aus dem meine Mutter und Oma und Opa stammten.

Dass dies mehr als nur Fantasie war, wurde mir erst später bewusst. Es stimmt ja: Ich habe hier keine Wurzeln. Das Leben meiner Schulfreundinnen mit Tanten und Onkeln, Cousins und Cousinen war mir fremd. Stattdessen: von Anfang an ständige Verwirrung. So kamen manchmal Frauen zum fröhlichen Kaffeeklatsch, die uns als Lagerkameradinnen meiner Mutter vorgestellt wurden. Wie konnte das sein? Das Lager war doch so schrecklich gewesen? Ich verstand es nicht. In einer weiteren Laune hatten die Schicksalswellen ein paar Verwandte meiner Mutter – also die Familie aus Ostpreußen – nach dem Krieg nach Magdeburg gespült, das ja meines Vaters Heimatstadt ist. Als Kind wusste ich nie, wer zu wem gehört oder woher kommt. Und erklärt wurde nichts. Es wurde über die wichtigsten Dinge einfach nicht gesprochen.

Erstaunlicherweise gab es nie einen Zweifel daran, dass wir – die Deutschen -  verantwortlich waren. Es gab in unserer Familie keinen Revisionismus – nie war die Rede von den „bösen Russen“ oder davon, dass früher alles besser gewesen sei. Nur die Heimat wurde schmerzlich vermisst. Ansonsten galt es die Zähne zusammen zu beißen und sich nicht zu beklagen.

Meine Schwester und ich verdienten uns unsere Existenzberechtigung mit den aussichtslosen Versuchen, unsere Eltern zu heilen. Ich bin heute sicher, dass das sehr vielen aus meiner Generation so ergangen ist und noch ergeht. Symbolisch betrachtet, ist meine Schwester an dieser vergeblichen Liebesmühe gestorben. Uns beiden ist es nicht gelungen, selbst eine Familie zu gründen oder auch nur eine stabile Existenz aufzubauen.

Das Dilemma für uns Nachkommen ist: Unsere Eltern sind nicht daran schuld, dass sie zu seelisch Versehrten wurden. Aber sie konnten auch keine Verantwortung dafür übernehmen und haben dieses Leid an uns Kinder weitergegeben. Wir haben dafür bezahlt – damit, dass wir nicht Kind sein und noch nicht einmal jemanden dafür einen Vorwurf machen durften, denn dann hätten wir unsere Eltern ja doppelt im Stich gelassen. Stattdessen wurden WIR im Stich gelassen und mussten uns in mühsamer und langjähriger seelischer Arbeit ein kleines Stück vom Glück erobern.

Mein Vater ist noch am Leben. Ich habe noch nie ein wirkliches Gespräch mit ihm geführt.

Wenn ich einmal sterbe, ist unser Familienfluch endgültig gebrochen. Aber manchmal macht es mich wütend und traurig, dass dies der Sinn meines Lebens (gewesen) sein soll.

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