Mittwoch, 27. August 2014

Zwischendurch mal ein Buchtipp

Radikale Erlaubnis - Das neueste Buch von Mike Hellwig (Therapeut und Autor)


Radikale Erlaubnis im Sinne von Mike Hellwig bedeutet: ALLE Gefühle anzuerkennen und zuzulassen. Für jemanden, der als Kind seelisch nur überleben konnte, indem er (oder sie) sich das Fühlen ganz abgewöhnte, klingt das gleichermaßen aufregend wie beängstigend.

Schon mit "Befreie das innere Kind" ergriff der Autor rückhaltlos Partei für das verlassene Kind und schilderte u.a., wie wir uns selbst bevatern und bemuttern können, wenn die eigentlich Zuständigen das nicht getan haben oder - noch schlimmer - genau das Gegenteil von guten Eltern gewesen sind.

Im aktuellen Buch zeigt Mike Hellwig, dass Heilung und damit Entwicklung zum kompletten Menschen nicht möglich sind, ohne dass unsere gesamte Gefühlspalette gefühlt und anerkannt wird. Aus der Gestalttherapie ist ein ähnlicher Ansatz bekannt - wir sollen die verschiedenen Anteile in uns anerkennen und integrieren. Meiner Erfahrung nach geht das recht formelhaft vor sich. Der Weg der radikalen Erlaubnis ist ein anderer - alles, was in uns ist, darf sein und will gesehen und gespürt werden. Dieses "alles" macht Hellwig uns anschaulich, indem er eindringliche Bilder für die Teile findet, aus denen es sich zusammensetzt.

So sind wir "Gastgeber" für diese ganz unterschiedlichen "Gäste", und - so könnte man sagen - haben diese ja selbst irgendwann mal eingeladen. Wie etwa die "Wächter", die eine sehr essentielle Funktion für uns hatten - sie haben uns gerettet, wenn die Bedrohung zu groß wurde. Nur haben wir sie leider nicht darüber informiert, dass ihr Job sich nun ändern muss, wo wir nicht mehr klein sind und andere Möglichkeiten haben, uns zu verteidigen. Sie brauchen unsere Anerkennung und unseren Dank, damit sie sich ebenfalls verändern und schließlich verabschieden können.

Ein wichtiger Unterschied seiner Therapie der radikalen Erlaubnis zur klassischen "Redekur" (nach Sigmund Freud) ist, dass ohne Fühlen gar nichts geht. Und Fühlen äussert sich im Körper. Der Körper - hier: der Bauch - weiß immer genau, was gerade los ist. Und im Körper fühlen wir auch die Veränderung - dies zeigt der Autor in Szenen aus seinen Therapiegruppen. Besonders für die "begabten Kinder", die ihr Leben lang versucht haben, alles zu verstehen, zu analysieren, damit es vielleicht nicht mehr so schmerzt, ist das eine heftige Herausforderung. Es braucht sehr viel Mut, den Schmerz auszuhalten bzw. sich in ihn hineinzubegeben. Mit einem Therapeuten an der Seite, der so offen auch über seine persönliche Geschichte erzählt und sich so vehement für das verlassene Kind in uns allen einsetzt - übrigens auch mit Strenge und durchaus männlicher Energie - können wir vielleicht diesen Mut aufbringen.
Der einzige Punkt, wo ich anderer Meinung bin, ist die vehemente Forderung nach der Auseinandersetzung mit den Eltern: sie sollen endlich anerkennen, was sie getan oder eben gelassen haben und dafür Verantwortung übernehmen. Wir, die verlassenen Kinder, sollen sie auf jeden Fall damit konfrontieren. Ich glaube (und habe es selbst erlebt), dass das noch schmerzlicher sein kann als diesen Konflikt nur mit therapeutischer Hilfe zu bearbeiten. Denn was ist, wenn wir vor den Eltern unseren ganzen Schmerz offenbaren und keinerlei Resonanz kommt? Ist das nicht noch schlimmer? Ich habe es so empfunden und akzeptiert, dass zumindest meine Eltern nicht aus bösem Willen schlechte Eltern waren, sondern aus Unvermögen. So konnte ich sie lassen und endlich anfangen, mich um mich selbst kümmern. Und das ist Herausforderung genug.