Montag, 30. Mai 2016

Willkommen im Hartz

Heute war also der Tag, vor dem ich mich die ganze Zeit so gefürchtet habe. Der Tiefpunkt. Oder so hat es eine Jobcenter-Mitarbeiterin in einer Fernseh-Reportage bezeichnet. Darin wurde eine Gruppe Langzeitarbeitsloser über mehrere Monate begleitet und erzählt, was die so erlebt haben in dieser bitteren Lage. Ist schon ein paar Jahre her, dass die Sendung lief. Das war, als das Thema noch jemanden interessiert hat. Also jemanden außer den Betroffenen. Heute ist ja der Arbeitsmarkt so supi, dass diese Menschen, zu denen ich nun auch wieder gehöre, nicht mehr groß erwähnt werden. Wir sind die Abgehängten, Vergessenen, Schwervermittelbaren. 

Was den Tiefpunkt angeht: In der erwähnten Reportage wurde einem Mann mittleren Alters, der eine gute Ausbildung und einen beachtlichen Berufsweg hinter sich hatte, mitgeteilt, er sei ja nun ganz unten angekommen und habe gar nichts  mehr zu wollen. 

Vor sowas hatte ich Angst. Ich bin heute mit dem festen Vorsatz zum Amt gefahren, mich ganz sachlich-höflich zu verhalten und nicht sofort wieder auf jede blöde Bemerkung anzuspringen. Oder mir anmerken zu lassen, wie klein und schrecklich ich mich fühle. Da ich vor lauter schlimmen Zukunftsvisionen seit Wochen nicht mehr richtig schlafen kann, würde das vielleicht klappen. Wenn  man sich so halb in Trance befindet, sind die Reaktionen ja eher verzögert, und in dieser Verzögerungsphase kann der Verstand eingreifen. Hoffte ich.

Als ich in die Straße einbog, wurde mir die Ironie der Situation bewusst: Schräg gegenüber vom Jobcenter ist eine  renommierte Werbeagentur, in der ich in meiner letzten beruflichen Position so manches Mal als Kundin im Taxi vorgefahren bin. Nun bin ich buchstäblich auf der anderen Seite gelandet. Die Straßenbahnlinie führt in eine Gegend, in der heftige Gentrifizierung stattgefunden hat und noch immer stattfindet. Um  diese Uhrzeit - morgens zwischen acht und neun - sind die Angestellten in ihre diversen Kreativ- und sonstigen Unternehmen unterwegs. Man könnte mich glatt für eine von ihnen halten. Wenn man nicht so genau hinschaut. 

Vor dem Gebäude angekommen, pralle ich regelrecht an der Warteschlange ab. Die Sprechzeiten wurden rigoros zusammengekürzt und Stellen abgebaut, weil ja der  Arbeitsmarkt brummt - siehe oben. Die nicht mitbrummen können, haben sich hier eingefunden. Mir fällt auf, dass viele extrem fette und extrem magere Leute in der Schlange stehen, vom Leben geschlagen sehen sie alle aus, ob dick oder dünn. Ich gebe zu, dass in mir eine Stimme immer noch darauf beharrt, dass ich doch nicht "zu denen" gehöre. Stimmt aber nicht - momentan gehöre ich hierher. Weiter fällt mir auf, dass zumindest  im Eingangsbereich die Jobcenter-Mitarbeiter nicht viel anders aussehen als wir, ihre "Kunden". 

Ich bin endlich an  der Reihe und sage, dass ich heute meinen Antrag abgeben möchte. Ich muss meinen Ausweis  vorlegen. "Sie leben allein", sagt die Frau am Schalter. Ich sage nichts, es war ja keine Frage. "Was ist denn nun,  leben Sie allein?!" "Ja.". "Gut, dann gehen Sie bitte zum Wartebereich. Sie werden dann aufgerufen."

Mach' ich. Es dauert gar nicht lange, bis eine Frauenstimme meinen Namen durch das Foyer trompetet. Das Recht auf Diskretion haben wir wohl auch verloren. Die Mitarbeiterin geleitet mich zu ihrem Schreibtisch. Dann muss ich wieder meinen Ausweis vorzeigen, und die erste Frage ist: "Sie leben allein?". Seufz. Ich antworte wahrheitsgemäß. Dann schaut sie sich die ausgefüllten Formulare an, behält einen Teil und schickt mich zur nächsten Station.

Ich gehe zuversichtlich zum Fahrstuhl, und in wenigen Sekunden hat sich hinter mir eine lange Schlange gebildet. Es gibt zwei Aufzüge, aber der zweite ist schwer zu finden, und außerdem fahren sie jeweils unterschiedliche Etagen an. Mir ist etwas bang, denn wenn es richtig eng wird, krieg' ich schon mal den einen oder anderen Panikanfall. Wir kommen aber heil im dritten Stock an.

Ich setze mich in den entsprechenden Wartebereich und  werde bald in ein Büro gerufen, diesmal von einem Mann, der schon auf den ersten Blick intelligent und freundlich aussieht. Und mich so anschaut und anspricht, als würde er mir dasselbe unterstellen.

Er erklärt mir,  was heute alles erledigt wird und fragt als erstes nach einem der Formulare, die seine Kollegin unten einkassiert hat. Ich suche trotzdem gründlich danach und sage dann, dass ich es unten abgegeben habe. "Sie hätten es  aber eigentlich mitbekommen müssen." Das ist so ein Satz, wo ich grundsätzlich nur schwer an mich  halten kann. Am liebsten würde ich mit "Hätte, hätte - Fahrradkette!" antworten, aber das wäre hier kontraproduktiv. Außerdem ist der Herr, bei dem ich im Büro sitze, zu nett - der hat das nicht verdient, beschließe ich. Nun fragt er gleich noch nach dem zweiten Zettel, den seine Kollegin ebenfalls behalten hat. Wenigstens glaubt er mir das, und er entschuldigt sich tatsächlich für das Durcheinander. Ich bin baff.

Dann fragt er noch, ob ich allein lebe. Das kann mich nicht mehr überraschen.

Wegen der fehlenden Zettel können wir nun nichts weiter tun, also schickt er mich zur dritten Station meiner heutigen Wanderung - zu meiner persönlichen Berufsberaterin. Gleich will mir wieder eine zynische Bemerkung entschlüpfen, aber ich habe mich sowas von im Griff! 

Also weiter in den sechsten Stock. Ich setze mich vor das im Laufzettel angegebene Büro, es ist eng und stickig auf dieser Etage. Zwei Stühle weiter wartet ein junger Mann mit afrikanischem Migrationshintergrund (hört sich das blöd an? ja, das hört sich blöd an). Der hat so eine sympathische Ausstrahlung, dass ich probeweise  sage: "Wär' es  nicht  schön, wenn jetzt jemand mit Kaffee vorbei käme?" Er antwortet mit einem Lachen: "Und noch schöner wär' Kuchen dazu!". Also unterhalten wir uns ein bisschen. Die Plauderei versetzt mich in gute Laune, da der junge Mann lustig und eloquent ist und außerdem eine Story mit Happy End zu berichten hat: Er hat gerade einen Job gefunden. Kaum habe ich ihm gratuliert, da werde ich herein gerufen.

Hinter einem total chaotischen Schreibtisch sitzt meine persönliche Beraterin zwischen lauter Pflanzen und Postern und guckt die ganze Zeit in ihren PC-Monitor. Sie sagt als erstes: "Sie leben allein." Woher kommt die Besessenheit mit diesem Thema? Dann fragt sie, ob ich vor der Antragstellung gearbeitet habe,  oder ob ich krank gewesen sei. Ich sage, dass ich auch noch weiter krank sei und eine Krankmeldung  dabei habe - ob sie die sehen wolle. Ihre Antwort: "Damit kann sich der medizinische Dienst befassen, wenn Sie behaupten, Sie seien arbeitsunfähig." "Mein Arzt behauptet das auch", sage ich. Kann ich mir einfach nicht verkneifen. Ich muss noch mehrfach wiederholen, dass ich eine Bescheinigung vorlegen kann, bis sie das endlich hört. Daraufhin reißt sie mir förmlich das Attest aus der Hand und sagt, ich sei dann hier fertig. Ich solle nochmal 'runter zum Herrn Dings gehen.

Wieder bei meinem Leistungs-Sachbearbeiter angekommen, der mir mit seiner zugewandten Art nun schon fast wie ein rettender Hafen erscheint, muss ich nicht mal mehr warten. Seine Tür steht offen, und er bittet mich herein. Dann händigt er mir ungefähr drei Zilliarden Blätter aus, die ich bis zum nächsten Termin  alle ausgefüllt und mit etlichen Anlagen versehen wieder mitbringen soll. Er erläutert mir alle wichtigen Punkte, und dann darf ich Fragen stellen.

Offensichtlich wichtigste Frage: Wie lange dauert es, bis der Antrag bearbeitet wird und mein Geld auf dem Konto landet? Der Termin für die Abgabe dieser Unterlagen ist erst in einer Woche, das dauert also schon alles länger als erwartet. Was passiert mit meinen Festkosten, die vom Konto abgebucht werden? Gibt es die Möglichkeit einer Abschlagszahlung, wenn der Antrag grundsätzlich bewilligt wird? Nein, nein und nein - sowas gibt es nicht. Gab es mal, aber alles ist leider verschärft worden (sagt der Herr Sachbearbeiter mit diesen Worten), und wenn ein wirklicher Notfall vorliegt, könne ich einen Lebensmittelgutschein erhalten. Ich wüsste zu gern, was  passiert, wenn  ich meine Stromrechnung mit einem Lebensmittelgutschein zu zahlen versuche. 

Jedenfalls ist nun für heute alles getan, und ich darf nach fast zwei Stunden wieder heimwärts ziehen. Es hätte schlimmer sein können. Es ist trotzdem schlimm.

Und das nächste Mal hänge ich mir ein großes Schild um, auf dem steht: Ehe Sie fragen - ICH LEBE ALLEIN. 



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