Dienstag, 8. Juli 2014

Menschen - Tore - Infusionen

"In meinem ersten Schreiben teilte ich Ihnen bereits mit, dass ich nach einem über 10-jährigen Afrika-Aufenthalt hier in Kaufbeuren in den Städtischen Kliniken eine Mini-TV-Radio-Sendeanlage ohne meine Erlaubnis in meinen Körper einoperiert bekommen habe und seitdem von Millionen Menschen in Europa empfangen werde." (Süddeutsche Zeitung, aus einem Buch mit Briefen an die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender) Dies nur als Warnung, was einem im Krankenhaus alles passieren kann!

Ganz so dramatisch war es bei mir nicht.

Ein Klinikaufenthalt in einem Mehrbettzimmer ist ja immer auch ein unfreiwilliges soziales Experiment. Mich hatte es ausgerechnet in der Woche erwischt, in der das Viertelfinale auf dem Plan stand. Das wurde mir erst bewusst, als ich nach meiner Bandscheiben-Operation wieder einigermaßen bei mir war und mich ein bisschen eingewöhnt hatte. Kein Rudelgucken. Schon gar nicht im Freien.

Das Zimmer war hübsch eingerichtet, und zu jedem Bett gehörte ein kleines TV-Gerät mit Kopfhörer. Mir genau gegenüber lag Frau B. (Anfang Achtzig). Wir konnten uns über die Bett-Fußenden hinweg anschauen und unterhalten. Oder Grimassen schneiden, was wir manchmal auch taten. Zum Beispiel als Kommentar zu Unterhaltungen von anderen Anwesenden.

Neben mir lag Frau D. (Mitte Siebzig), die breites Frankforderisch sprach, und das laut und gern. Frau B. und ich mochten Frau D., und meist ging die Zeit mit Plaudereien zu Dritt ganz gut herum.

Am Tag des Spiels Frankreich-Deutschland lag eine besondere Stimmung über der Station. Als würden allenthalben Vorbereitungen verschiedenster Art getroffen. Ich war zunächst unentschlossen, weil ich mir schlecht vorstellen konnte, als Fan quasi mit angezogener Handbremse und gemurmelten Anfeuerungen so ein wichtiges Spiel zu verfolgen.

Je näher der Spielbeginn rückte, desto klarer wurde mir, dass ich gar keine andere Wahl hatte. Frau B. teilte mit, sie würde nicht gucken. Sie habe überhaupt nichts übrig für Fußball und verstehe ja auch gar nichts davon.

Frau D.: "Isch guck auch net. Fußball is net so meins."

Ich bat um die Erlaubnis, ein bisschen herumschreien zu dürfen - die wurde großzügig gewährt.

Also frühzeitig eingeschaltet, falls es technische Probleme geben sollte. Bis zu diesem Abend - zwei Tage nach der OP - hatte ich nämlich noch keinerlei Verlangen nach dem Fernsehprogramm gehabt.

Kurz vor Beginn des Spiels höre ich von Frau B.: "Auf geht's." Ich: "?" Frau B.: "Ach, ich guck jetzt doch mit." Wie schön! Auch aus den Nebenzimmern - die meisten Türen stehen wegen der großen Hitze offen - kommt verhaltener Jubel nach dem Tor.

Das Abendessen wird serviert. Die Schwester zu Frau D.: "Was? KEIN Fußball?" Frau D.: "Ach naa, des indressiert misch net." Schwester: "Wir führen mit Eins zu Null - nur damit Sie informiert sind." Frau D.: "Dankeschön." Frau D. ist immer freundlich.

Dann herrscht eine Zeit lang relative Ruhe, unterbrochen nur von Äußerungen wie "Nein!", "Ach!" oder "So ein Mist." Nach einer Weile bemerke ich Signale von Frau B. herüber zu mir. Ich nehme kurz die Kopfhörer ab. Frau B. sagt: "Wir sind grad nicht so gut, oder?" Ich: "Naja - doch, aber wir sind mit Verteidigung beschäftigt, weil die Franzosen ganz schön aufgedreht haben."

Ein paar Sekunden Stille. Dann Frau B. - zur Erinnerung: Fußball lässt sie völlig kalt - mit erhobener Stimme: "Jetzt macht endlich mal! So wird das doch nie was!" Ich grinse zu ihr 'rüber. Sie: "Ist doch wahr."

Von nebenan ertönt eine Stimme: "Los Jungs, sonst flutscht mir gleich noch 'ne Bandscheibe raus."

Frau B. und ich amüsieren uns königlich darüber, dass wir hier faul in unseren Betten liegen, mit kalten Getränken in Griffweite und einem tollen Panoramablick auf die Stadt, und den Männern, die in Rios Mittagshitze kämpfen, empfehlen, sich doch bitte mal ein BISSCHEN anzustrengen.

Später trifft man sich mit den Nachbarzimmerbewohnern auf dem Gang am Wasserspender und kommentiert noch ein bisschen das Spiel, um dann aus dem Fenster den Autokorso zu betrachten.

Aber nun - verehrte Leserschaft - schalten wir nach Belo Horizonte zum HALBFINAAAALE!







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