Donnerstag, 18. Juni 2015

Buchkritik "Nebelkinder"

Es hat wohl seinen Grund,  warum ich die versprochene Rezension schon ewig vor mir herschiebe. Ich war wirklich gespannt auf die Sammlung von Beiträgen zu einem Thema, das mich selbst betrifft und schon seit einiger Zeit beschäftigt. Und nun fällt es mir schwer, etwas dazu zu sagen.

Eine Erklärung ist, dass ich nun mal eine Sprachverrückte bin, ich kann einfach nichts lesen und dabei nur auf den Inhalt achten. Erzählenswerter Inhalt hat eine gute Form verdient. 

Und in diesem Fall zucke ich schon beim Untertitel zusammen, denn während "Nebelkinder" immerhin poetisch klingt und ein Bild heraufbeschwört, nimmt der Untertitel "Kriegsenkel treten aus dem Traumaschatten der Geschichte" mir fast schon jede  Lust, das Buch überhaupt aufzuschlagen. Ich frage mich, wer sich so etwas abgerungen hat. Wenn schon Worte erfinden, dann doch schöne! Oder wenigstens sinnvolle. 

Aber sei's drum. Ich habe versucht, gewissenhaft alle Beiträge zu lesen, was mir nicht gelungen ist.

Als Beispiel für mein Unbehagen soll die erste Geschichte dienen. Joachim Süss, der zugleich einer der Herausgeber ist, schreibt gleich im zweiten Satz über "uns Nebelkinder" - also im  Namen von sehr vielen, die in den 60er und 70er Jahren in der alten BRD aufgewachsen sind: "Ihr Blick auf die Geschichte ist verstellt, und damit ist zugleich ihre Zukunft verschlossen." Das ist mir zu undifferenziert und - ich gebe es zu - zu hoffnungslos. Mit dieser kategorischen Aussage beginnt er die Erinnerung an seine Kindheit in Stadtallendorf. Die Stadt gilt ihm als Symbol für alles möglichen dunklen Seiten des Nachkriegsdeutschland. Womöglich gerade aus dem Willen zu dieser Überhöhung ensteht dann Unverdauliches wie "geronnene Flucht", "Nabelschnur zu den Vorfahren" oder "giftbeladene Sedimente".

Und das ist schade, denn damit wird die Kraft der Gefühle und Erinnerungen des Autors geschwächt, wo er doch - so nehme ich jedenfalls an - genau das Gegenteil erreichen wollte.

Sicher sind die wenigsten Leser so streng, und besonders für diejenigen, die mit dem Thema nicht oder noch wenig vertraut sind, kann das Buch durchaus eine Offenbarung sein. 

Auch mir gingen einige Kapitel sehr nah, und das waren die, wo ich an einer persönlichen Geschichte Anteil nehmen durfte. 

Die Geschichte von Andreas Bohnenstengel ist zwar eine persönliche. Sie gehört aber doch zu denen, bei denen mir Entscheidendes fehlt. Bohnenstengel ist Fotograf und verarbeitet seine Erlebnisse in seiner Kunst. Da würde ich mir wünschen, genau dies auch zu sehen. Denn in seiner Erzählung wird klar, dass er kein Autor ist. Er behauptet, aber zeigt nicht, was in ihm vorgeht. Oder er tut es jedenfalls in einer Weise, die mich nicht berührt. 

Ganz anders geht es mir mit den Beiträgen von Katharina Ohana und Antje Pohl. Sie haben jeweils auf ihre eigene Art emotionale Wucht und Wirkung. Und die Autorinnen das sprachliche Vermögen, diese auszudrücken. Das macht - trotz des traurigen Themas - tatsächlich Lust, sich noch weiter damit zu beschäftigen.

Im dritten Teil des Buches geht es unter dem Titel "Heilung" darum, was wir Kriegsenkel denn nun anfangen mit diesem Erbe. 

Dass es inzwischen dieses Kapitel überhaupt geben kann, ist natürlich eine Folge davon, dass sich immer mehr Therapeuten mit dem Thema auseinan-dersetzen (müssen). Und es macht Betroffenen wie mir Hoffnung. Ich kann mich noch gut erinnern, dass meine erste Reaktion auf das Bewusstwerden dieses Erbes war: "Ohje, und nun?" Was nach dem "und nun?" kommen kann, beschreibt u.a. Ingrid Meyer-Legrand, die ich inzwischen persönlich kenne. Daher bin ich sicher voreingenommen, denn ich mag ihre Art sehr und finde die auch in ihren Texten wieder. Sie legt großen Wert darauf, uns zu zeigen, dass wir keineswegs resigniert auf dem Schutthaufen der Vergangenheit sitzen bleiben müssen, sondern darin durchaus Schätze zu entdecken sind. Aus denen etwas Gutes entstehen kann.

Einen ähnlichen Ansatz beschreibt Anne-Ev Ustorf eindringlich anhand ihrer eigenen Geschichte, und in diesen und den anderen Beiträgen des Kapitels geht es nicht zuletzt auch um die gesellschaftliche und politische Bedeutung des Erbes.

Inhaltlich ist das Buch unbestritten lesenswert, und nicht nur einmal. Es regt an zum Weiterlesen und Diskutieren.

Dass das stilistische und sprachliche Niveau in solch einer Sammlung unterschiedlich ist, liegt zwar in der Natur der Sache. Aber, auch wenn ich mich wiederhole: die Mängel fallen auf, sei es als Redundanzen oder sogar sich vermeintlich widersprechende Aussagen im selben Kapitel. Das Buch hätte (vielleicht in der zweiten Auflage?) ein besseres Lektorat verdient. 

Mittwoch, 17. Juni 2015

Die Bahn macht mobil

Natürlich muss ich genau an dem  Tag in Urlaub fahren, an dem der unbefristete Streik der GDL beginnt.

Nach einer fast schlaflosen Nacht – teils dem Reisefieber geschuldet und teils der Tatsache, dass ich wie unter Zwang andauernd die neuesten Streik-meldungen checken musste – steige ich endlich um sieben Uhr morgens in den Zug nach Berlin. Eine junge Frau – nicht gerade strahlender Laune oder gar in Plauderstimmung – sitzt neben mir. Sie verteilt ihre Besitztümer raumgreifend um sich herum, arbeitet auf ihrem Notebook und muss später an einer Telekonferenz teilnehmen. Natürlich höre ich nur ihre Beiträge oder besser Versuche, aber die sind recht eindeutig: "Ich bin der Meinung...."...."Also ich finde ja...." …."Wenn ich dazu etwas sagen darf...."... "Aber hatten wir nicht ursprünglich vereinbart..." und zu allerletzt „Das schaffe ich nicht!!!“
Ich merke, wie fremd mir diese Welt inzwischen geworden ist. Sie tut mir leid, aber nur ein bisschen.

Ein lustiges südamerikanisches Pärchen transportiert scheinbar seinen ganzen Hausrat und versucht, diesen möglichst platzsparend zu verstauen, was nicht ganz gelingt. Die Post würde die Kisten und Kartons als Sperrgut klassifizieren. Ein fröhlicher Zugbegleiter schlängelt sich an dem Aufbau vorbei und bemerkt: „Genug Gepäck ham wir jedenfalls mit!“

Überhaupt sind alle DB-Angestellten ausnehmend guter Laune und sehr hilfsbereit. Ich frage mich, ob das irgendwie mit dem Streik zusammenhängt. Ich hätte eher das Gegenteil erwartet, aber womöglich ist es der Spaß an der Ausnahmesituation. So finden sich hier in der ersten Klasse viele Leute, die wohl sonst zweiter Klasse fahren. Eine echte Abwechslung zu den üblichen Anzug-männern mit Smartphones und Laptops und wichtigen Mienen.

Gegen Ende der Fahrt verteilt derselbe Zugbegleiter Kekse an alle und sagt dazu verschmitzt: „Mit schönem Gruß von der Gewerkschaft!“

In Berlin – wohin ich ursprünglich erst auf der Rückreise wollte – habe ich eine Stunde Aufenthalt und überlege, die beiden Freunde zu erschrecken, bei denen ich in ein paar Tagen Station mache. Ich könnte ganz empört tun, dass mich keiner abholt, obwohl ich schon stundenlang am Bahnhof warte. Mein alberner Streich wird dadurch vereitelt, dass Michael gar nicht erst ans Telefon geht. Ist auch besser so – sowas haben sie wirklich nicht verdient. Bei ihnen zu Gast fühle ich mich, als wäre jeden Tag Kindergeburtstag. Und zwar meiner.

Stattdessen rase ich, weil es im Bahnhof kein Internetcafé gibt, ins nächste Hotel, um endlich mein mitten in der Nacht gebuchtes Fernbusticket auszudrucken. Wie blöd, dass man das nicht in der DB-Lounge erledigen kann! Wie schön, dass jemand im DB-Reisezentrum mir diesen Tipp gegeben hat! Und noch viel schöner, dass die jungen Leute, die an der Hotelrezeption eigentlich vor mir dran wären, lebhaften Anteil nehmen, mich selbstverständlich vorlassen und mir „Gute Reise und einen tollen Urlaub!!“ hinterher rufen, als ich wieder zum Bahnhof galoppiere. Nun gut: trabe.

Dann ruckzuck ein Kaltgetränk und ein Brötchen erworben und runter zum Bahnsteig gerollt, an dem heute der Zug nach Stralsund abfahren soll, und zwar mit nur fünf Minuten Verspätung. Angeblich.

Noch tut sich nichts, außer dass immer mehr Menschen auf den Bahnsteig strömen. Da ertönt eine Ansage, die einen imaginären Zug und dessen Fahrgäste auf demselben Bahnsteig willkommen heißt und uns alle informiert, dass der Zug nach Stralsund schon bereit stünde. Weit und breit kein Zug zu sehen, geschweige denn zwei. Trotzdem - oder wohl deswegen - macht sich leichte Unruhe breit. Ich denke an den Film „Monsieur Hulots Ferien“, der damit beginnt, dass auf einem französischen Provinzbahnhof unverständliches Getröte aus den Lautsprechern kommt, woraufhin ein Trüppchen geplagter Reisender die Treppen mehrfach hoch und runter und wieder zurück rennt. In meiner Gegenwart beruhigt sich langsam alles. Jetzt kommt auch wirklich der Zug.

In der Bahn von Berlin nach Stralsund treffe ich einige der Menschen aus dem ersten Zug wieder – wir begrüßen uns wie alte Bekannte. Ich suche mir einen Platz, überlege es mir dann wieder anders – bin wohl doch ziemlich übernächtigt und nicht mehr Herrin aller Geisteskräfte. Dann muss ich auch noch meinen Koffer unterbringen, während sich hinter mir ein paar Frauen mit kleineren Kindern einrichten.

Inzwischen hat eine alte Dame meinen ursprünglichen Sitz erobert. Kurz nachdem ich kapiert habe, dass ich diesen Platz gegen einen schlechteren eingetauscht hatte. Für den Moment ratlos gucke ich hin und her. Darauf die Frau: „Möchten Sie nicht lieber bei Ihren Kindern sitzen? Sind das denn Ihre Kinder?“ „Nein, das sind nicht meine Kinder. Sonst wäre ich wohl eine extrem Spätgebärende gewesen.“ „Ich dachte, das sind Ihre Kinder.“ „Wenn überhaupt, wären sie meine Enkel. Sind aber weder noch.“ Ein Mann ruft dazwischen: „Wer weiß!“ „Ich! Wenn es irgend jemand weiß, dann ich!“ Alles lacht. Die alte Dame macht sich später noch ausführlich Sorgen um einen jungen Mann, falls der mal aufs Klo muss und nicht raus kann, weil ich – er hat es mir angeboten – meinen Koffer zu ihm gestellt habe. Der junge Mann sitzt mir schräg gegenüber, und wir werfen uns augenrollende Blicke zu und schneiden alberne Grimassen. Sofort tut es mir wieder leid, denn die alte Frau ist einfach nur freundlich, wenn auch ziemlich redselig.

Zwei kleine Jungs – Brüder – sind anfangs noch gedämpft von weitem zu hören, wie sie sich unterhalten und irgendwas spielen. Plötzlich ein empörter Schrei: „Du hast das kaputte-maaaaaacht! Mamaaaaaa – der hat das kaputte-maaaaacht! Mamaaaaaaa!“ Sie vertragen sich schnell wieder. Leider toben sie von nun an auf den leeren Plätzen hinter mir herum, und jedes mal, wenn ich versuche, böse nach hinten zu gucken, sitzen sie blitzschnell still und grinsen mich mit funkelnden Augen an, als könnten sie kein Wässerchen trüben. Gegen so viel Charme bin ich machtlos.

Ein etwas älterer Junge mit Hipster-Hütchen auf dem Kopf hantiert mit einem kleinen Gerät, seine Mutter reicht ihm einen Kopfhörer, und er fragt: „Wie geht'n das jetzt? Muss ich einfach den Knopf drücken?“ Bevor sie antworten kann, erklingt laut eine Stimme mit den Worten: „Liebe Tindlein, am Anfang ist alles noch tsiemlis swer, aber das wird schon!“ Beinah' rufe ich entzückt: „Mama Wutz!“ Jawohl, sie ist es. Leider darf ich nicht weiter mithören, weil der richtige Knopf für den Kopfhörer gefunden wird. Ich bin betrübt. Das Urmeli ist mein Lieblings-Puppenkisten-Star.

Eine Frau in meiner Nähe ruft per Handy eine Kollegin an. „Du, Brigitte, morgen kommt ein Päckchen bei Euch an, da ist Blut drin.“ WAS!?
„Gib das bitte sofort ins Labor weiter.“ Ach soooo.

Und so vergeht recht gemütlich und unterhaltsam der zweite Teil der Bahnreise.

In Stralsund versuche ich herauszufinden, wo der Busbahnhof ist und ob ich dahin laufen kann. Obwohl ich inzwischen ziemlich abgekämpft bin. Eine freundliche Verkäuferin im kleinen Bahnhofsladen meint, es würde sich wirklich nicht lohnen, für so eine kurze Strecke den Bus zu nehmen oder womöglich gar ein Taxi. Es sei sozusagen gleich um die Ecke. Ich marschiere also los. Von „gleich um die Ecke“ kann aber keine Rede sein. Außer man ist total leichtfüßig und muss nicht noch einen immer schwerer werdenden Koffer hinter sich herschleifen. Trotz Rollen fühle ich, wie mein Arm langsam ausleiert. Damit nicht einer am Ende länger aussieht als der andere, wechsele ich alle paar hundert Meter.

Endlich ist der Busbahnhof in Sicht, oder doch nicht? Ich sehe hinter einer Kurve einen unwirtlichen Parkplatz, von schmutzig-grauem Geröll bedeckt und durch kleine, an den Rändern bröckelnde Parkinseln unterteilt, aber keinerlei Hinweis auf eine Fernbushaltestelle. Dabei soll der nach Rügen schon in zehn Minuten abfahren. Wenn ich nun am falschen Ort warte! Katastrophe. Bei meinem nächtlichen Online-Check war das Endergebnis, dass dies am heutigen Tag die einzige Verbindung zu meinem Urlaubsort ist. Leicht panisch rufe ich die Hotline des Busunternehmens an und beschreibe dem jungen Mann am anderen Ende, wo ich warte. Er versichert mir, dass ich da genau richtig bin. Nach dem Gespräch kommt plötzlich eine SMS mit der Bitte um etwas Geduld, der Bus habe ein bisschen Verspätung. Das Bisschen entwickelt sich zu einer guten halben Stunde, während der ich ein paar versprengte Teenager bei ihren Paarungsritualen betrachte. Endlich biegt der Fernbus um die Ecke. Ein gemütlich aussehender Fahrer krabbelt heraus und zündet sich erstmal eine Zigarette an. Ich wanke zu ihm hinüber. „Sagen Sie bloß, Sie fahren mich jetzt nach Rügen?“ Und er zwinkert mir freundlich zu und antwortet: „Jawoll! Und war ich nicht brav? Hab' ich nicht eine SMS geschickt, so dass Sie Bescheid wissen wegen der Verspätung?“ Das gestehe ich ihm gern zu.

Und dann fahren wir los. Und nach der Überquerung der Brücke zur Insel erkenne ich nach mehr als zwölf Stunden Fahrt die Landschaft wieder, die ich letztes Jahr so ins Herz geschlossen habe, und kann beinahe schon das Meer spüren. Endlich!