Samstag, 29. August 2015

Schluss mit lustig

Ich wusste ja, dass das kommt, und heute ist es soweit: Natürlich werde ich von den blöden "Gefüüüühlen" eingeholt, nachdem ich mit meinen Witzchen die Schmetterlinge im Bauch vertrieben habe. Die zarten Wesen hatten gegen schwarzen Humor keine Chance. 

Gestern konnte ich - wie so oft - nicht einschlafen und habe meinen Krimi weiter gelesen. Der sich als Liebesgeschichte entpuppte, in einem weit umfassenderen Rahmen als dem der üblichen Zweierbeziehungs-Romantik. Die letzten Seiten verschwammen vor meinen Augen. Ich hatte schon bei den schlimmen Nachrichtenbildern früher am Abend geweint, einerseits um die Flüchtlinge und andererseits um mein Herz. 

Vieles geht mir gerade durch den Kopf - die Bücherliste der letzten Tage erzählt davon, was da durcheinander purzelt: 

Brené Brown - Verletzlichkeit macht stark
Louise Penny - How the Light Gets In (der Krimi von oben)
Udo Baer - Wo geht's denn hier nach Königsberg?
Marie Kondo - Magic Cleaning
Julia Cameron - The Right to Write
Friederike Mayröcker - ich sitze nur GRAUSAM da

Im Buch von Louise Penny kommt ein Gedicht vor, dass einer der Figuren in der Inspektor Gamache-Serie zugeschrieben wird. Ruth ist eine bejahrte Dichterin, die versucht, alle um sich herum weg zu beißen, und dies natürlich mit großer verbaler Kraft. Die Anfangs-Zeilen werden immer wieder zitiert, und diese Zeilen kannte ich schon aus einer früheren Gamache-Geschichte:

Who hurt you, once,
so far beyond repair
that you would meet each overture
with curling lip?

Als ich das zuerst las, hatte ich das Gefühl, die Dichterin habe ihre Hand sanft auf meine Schulter gelegt. (Dies ist für Dich, Sebastian. Du hast doch gefragt, was Oscar Wilde damit gemeint hat, dass wir lesen, um uns nicht so allein zu fühlen.) War ich nicht auch eine Meisterin der "curling lip"?

Meine ewige Frage ans Leben ist ja genau die - bin ich "beyond repair"? 

Im Buch wird das mit Worten von Leonard Cohen beantwortet: 

Ring the bells that still can ring
Forget your perfect offering
There is a crack, a crack in everything
That's how the light gets in.

Welche Sicht am Ende bevorzugt wird, sagt Louise Penny ja schon mit der Auswahl des Titels. Aber so ausführlich wollte ich das hier gar nicht erzählen. Louise Penny verdient einen eigenen Post.

Warum hat mich gestern die Traurigkeit wieder so nieder geschmettert? "Nur" wegen Liebeskummer? Wegen eines Erlebnisses, das für normale Leute eine alberne Nichtigkeit wäre? Bei einem Abendspaziergang habe ich nachgedacht und bin darauf gekommen, dass ich wieder einmal zuviel geschluckt habe:

Vor zehn Tagen wurde mein Vater als Notfall ins Krankenhaus gebracht. Ich erhielt den üblichen Anruf ohne Angabe, was genau los war und rannte los zur U-Bahn. Déjà vu in schlimmster Form. Von Haus zu Haus brauche ich mehr als eine Stunde und habe also Zeit genug,  mir Schreckliches auszumalen. Und schwanke zwischen Angst und Gefasstheit. Ich denke sogar: Falls Vater gestorben ist, komme ich wohl damit zurecht. Er hatte eine schöne Zeit die letzten Jahre, und vorgestern waren wir noch zusammen und haben fröhlich bei Kaffee und Kuchen über Gott und die Welt geplaudert. (Alice Miller zum Trotz.) 

Als ich in der Klinik ankomme, ist mein  Vater kreuzfidel, wenn auch etwas verwirrt, und flirtet schon wieder mit den Krankenschwestern. Es war nicht der dritte Schlaganfall, sondern ein Schwächeanfall, von dem er sich hier erholen soll. Und natürlich: Wie ich es vor langer Zeit gelernt habe, stelle ich mich blitzschnell auf die neue Situation ein, denn für meine Angst und Aufregung ist hier kein Platz - und auch kein Anlass mehr. 

Bis endlich alles untersucht und geklärt ist, habe ich sechs Stunden im Krankenhaus verbracht und mich um  vieles gekümmert, nur nicht um  mich. Es scheint zudem ein Naturgesetz, dass man auf jeder Station mindestens einen völlig empathiefreien Mitarbeiter findet. Drei davon sind mir in diesen Stunden begegnet. Weil ich meinem Vater nicht schaden will, habe ich den Mund gehalten.

Die nächsten paar Tage fahre ich zweimal in die Klinik, besorge Dinge aus Vaters Wohnung, putze dort ein bisschen, vermittle zwischen Vater und Personal und so weiter. 

Ich höre mir Berichte an über den Pflegezustand und -bedarf meines Vaters. In seiner Akte steht, es gebe nur noch eine Tochter, die sich nicht engagiere, und der alles ziemlich egal sei. Vor lauter Schock und Empörung frage ich gar nicht, woher diese Beurteilung kommt. Ich bin wieder ganz klein und sitze auf der Anklagebank. Versuche die Ruhe zu behalten und erkläre der Sozialarbeiterin, dass mein Vater stolz ist, weitgehend allein zurecht zu kommen, und dass ich ihn nicht bevormunden werde, solange er noch Herr seiner Sinne und vor allem seines Verstandes ist. Die Frau findet meine Einstellung gut, und ich schleiche möglichst unauffällig von der Anklagebank zurück in den Zeugenstand. 

Dann ist mein Vater wieder zu Hause mit der Diagnose, dass soweit alles gut sei. Ich besuche ihn gleich und werde auf dem Weg zu seiner Wohnung von einem extrem dicken Mann angerufen, der von seinem Fahrrad steigt und sich als Herr W. vorstellt. Seinen Namen kenne ich aus Erzählungen meines Vaters. "Ei, isch wohn' doch schon zehn Millione' Jahr' da in dem  Haus!"

Dann beginnt Herr W., mir alles Mögliche aus seinem Leben zu erzählen. Er ist geschieden, und seine Frau will komischerweise nichts mehr mit ihm zu tun haben. "Isch versteh' des net, aber wie Fraue' halt so sind..." Sein Rücken tut dauernd weh. Immerhin hat er noch Kontakt zu seinen Töchtern. Wie gelähmt höre ich mir freundlich alles an und mache ab und zu diese typischen Geräusche, wie man sie halt macht in so einer Situation. 

Dann beginnt er eine Geschichte über meine verstorbene Schwester. "Ihr' Schwester war ja immer Scheiße druff. Die hat nie gegrüßt, bis isch ihr mal die Meinung gegeischt hab'. Und dann hat sie misch mit de' übelste' Ausdrück' beschimpft....". Ich sage leise, dass meine Schwester meist sehr unglücklich gewesen sei. Heute würde ich mir am liebsten die Zunge dafür abbeißen. 

Meinem Vater erzähle ich, dass ich Herrn W. getroffen habe und wir uns  ganz nett unterhalten hätten. Ich bin offenbar eine verlogene Schlampe, genau wie Herrn W.'s Ex-Frau. 

Zu schlechter Letzt kommt noch die Ablehnung meines Widerspruchs beim Arbeitsamt. Unten auf dem kaum verständlichen Schreiben ist eine Anmerkung: "Ihre Meinung ist uns wichtig! Bitte machen Sie mit bei unserer Umfrage." Man wird also nicht nur abgeschmettert, sondern auch noch verhöhnt.  

Über all das habe ich mit niemandem wirklich geredet. Wenn überhaupt, erzähle ich so, dass sich der Zuhörer möglichst gut unterhalten fühlt - siehe oben bei "Witzchen". Meinen Schmerz und meine Sehnsucht, auch mal getröstet und unterstützt zu werden, zeige ich nicht. Ich weiß immer noch nicht, wie das geht. Ich darf niemandem zur Last fallen. Dieser Glaube sitzt tief.

Und immer noch ist es so, dass ich erst mit Verspätung fühle, was alles auf mich eingeprasselt ist. Kein Wunder, dass ich so traurig und erschöpft bin. 

Verletzlichkeit macht stark, nach Brené Brown. Gestern habe noch darüber nachgedacht, dass ich das nicht ganz begriffen habe. Heute frage ich mich: Ist damit gemeint, dass es letztendlich mehr Kraft kostet, sich unverletzlich zu zeigen? Und wie geht es anders?

Die Versuchung ist groß, mein Herz wieder fest zu verschließen und den Schlüssel weit weg zu schleudern. Die Herausforderung ist, gerade das nicht zu tun. 

Einerseits müsste ich dann womöglich wieder ewig lange suchen, bis der Schlüssel gefunden ist. Andererseits ist da die Hoffnung, dass durch die Risse das Licht auch zu mir findet. Sind ja genug da inzwischen. 

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