Dienstag, 25. Februar 2014

Rückenschule Teil 2

(Was bisher geschah:

Von der Geschäftsreise mit Horrorschmerzen nach Hause gekommen, erfährt sie, dass ihre Mutter in ihrer Abwesenheit gestorben ist. Noch ehe sie das richtig verstanden hat, liegt sie in neurochirurgischen Abteilung des Krankenhauses, das nur fünf Minuten von der elterlichen Wohnung entfernt ist.)

In der Klinik überlässt sie sich der freundlichen Fürsorge der Ärzte und Helfer. Sie hat absolut keine Angst vor der Operation und lässt die ganze Prozedur bis zur Anästhesie mit distanziertem Interesse über sich ergehen. Gleich nach dem Aufwachen geht sie untergehakt mit einem Pfleger den Gang entlang. Der ermuntert sie mit Charme und schönen Worten: Ja, sehr gut! Königliche Haltung, genau das will ich sehen. Sie schreiten majestätisch den Flur auf und ab und sie genießt, nach langer Zeit endlich ohne Schmerzen zu sein.

Sie ist gerührt über die vielen Besucher. Sie redet sich ein, es mache ihr nichts aus, dass Vater und Schwester nicht kommen. Vom Fenster ihres Krankenzimmers kann sie den Häuserblock sehen, in dem sie aufgewachsen ist, und wo ihr Vater nun allein wohnt. So richtig hat sie noch nicht verstanden, dass ihre Mutter nie mehr dorthin zurückkehren wird.

Deshalb fragt sie zwei Tage nach der Operation ihre Ärztin, ob sie zum Friedhof fahren darf. Trauerfeier und Begräbnis haben ohne sie stattgefunden, und sie muss dort hin, um zu sehen und zu begreifen. Das Gesicht der jungen Ärztin wird beim Zuhören plötzlich ganz weich: Gehen Sie nur. Ich sage im Schwesternzimmer, dass Sie einen kurzen Spaziergang machen.

Sie fährt mit dem Bus zum Friedhof und kauft im Blumengeschäft vor dem Eingang eine einzelne Rose. Dann spaziert sie langsam hinein und geht automatisch den richtigen Weg zum Familien-Urnengrab. Sie wundert sich selbst, dass sie nach so langer Zeit den Weg noch weiß. Sie kommt sehr selten hierher - nie hat sie das Gefühl gehabt, dass ihre Großeltern irgendwas mit diesem Ort zu tun haben. An ihren Großvater erinnert sie sich nur noch in einzelnen Bildern aus der frühen Kindheit, aber an ihrer Großmutter hat sie sehr gehangen. Sie hat zumindest versucht, die Kälte der Mutter etwas auszugleichen. 

Dann steht sie vor dem frischen Grab. Es ist überhäuft mit Kränzen und Gestecken, sogar ihre Kolleginnen haben Blumen geschickt. Ihr eigenes Gesteck ist auch da - ohne den Anruf bei der Blumenhandlung hätte sie nicht einmal Tag und Uhrzeit der Beerdigung gewusst. Unvermittelt sagt sie: So viele schöne Blumen - das hätte Dir gefallen, Mutti! Die mitgebrachte Rose will sie nicht einfach auf das Grab fallen lassen, also geht sie in die Hocke und legt die Blume behutsam nieder. Als sie sich wieder aufrichten will, geht es nicht. Ihr war einfach nicht klar, dass sie so bald nach der Operation noch geschwächt ist.

Da hockt sie nun vor dem Grab ihrer Mutter, auf dem nassen Boden, an einem grauen feuchten Herbsttag, keine Menschenseele in der Nähe (außer, die Seele ihrer Mutter wäre noch hier?). Sie überlegt. Was kann sie tun? Um Hilfe rufen wird sie auf keinen Fall. Langsam muss sie grinsen, dann lachen, und stellt sich vor, ihre Mutter lache mit ihr. 

Sie nimmt all ihre Kraft zusammen, konzentriert sich und stemmt sich hoch. Dann geht sie zur Bushaltestelle, fährt zurück ins Krankenhaus und sinkt erleichtert in ihr Bett. In dieser Nacht schläft sie gut.






Montag, 10. Februar 2014

Erlebnisse eines Homo consumensis (vulgo und in diesem Fall: Kundin)

1.Vor ungefähr dreißig (Was? Ach Du liebe Güte!) Jahren
Kundin geht mit Freundin die erste Brille ihres Lebens aussuchen. Kundin ist schon mitgenommen genug von der Neuigkeit, dass sie eine Brille braucht. Schüchtern probiert sie ein paar Gestelle an, aber keines passt wirklich.
Optiker sagt: "Sie haben aber auch ein sehr breites Gesicht!"
Kundin:  (Will in Tränen ausbrechen und sich für ihr breites Gesicht entschuldigen.)
Freundin: "Komm, wir gehen!"
Kundin und Freundin ärgern sich beim Kaffee über den Optiker und planen, in den Laden zurück zu gehen, alle Brillen vom zu Regal fegen und wortlos wieder hinaus zu schreiten. Machen sie nicht, aber die Vorstellung ist heilsam.

2. Kundin geht in ein mittelpreisiges Modegeschäft, findet was Nettes, möchte aber weiter in den ersten Stock, und sich noch ein bisschen umsehen. Sie nimmt den Bügel vom Ständer und will das Fräulein Verkäufer* fragen, ob sie das Kleidungsstück mitnehmen und oben bezahlen darf.

Kundin: (öffnet den Mund)
Fräulein Verkäufer (schrill): "NURNOCHWASDAHÄNGT!"
Kundin: "Ich wollte eigentlich..."
Kundin (denkt): Was für eine Fehlbesetzung. Und wie so viele ihrer Art hat sie ein unsichtbares Schild auf der Brust, auf dem steht "Ich bin sowieso cooler als all Ihr doofen Kundinnen zusammen". Leider klaffen Selbst- und Fremdwahrnehmung eklatant auseinander. 
Kundin nimmt Klamotte, geht in den ersten Stock, wo sie von einer freundlichen und zuvorkommenden Verkäuferin bedient wird. "Na", denkt Kundin, "geht doch."

3. Kundin möchte in ein wirklich gutes Kleidungsstück investieren. Dazu rät jede zweite Frauenzeitschrift ("...das lohnt sich, denn Sie haben lange etwas davon..."), und Kundin ist in Sachen Kaufräusche durchaus beratungsoffen. Fräulein Verkäufer wiederum hat leider Wichtigeres zu tun als Beraten und Verkaufen: Pullover auseinander- und wieder zusammenfalten, Bügel anderen Kundinnen aus der Hand reißen und ordentlich wieder aufhängen und anderen Fräuleins Verkäufer von schrecklichen Erlebnissen mit zudringlichen Kundinnen erzählen. Kundin versucht es mit Anschleichen und plötzlich Zuschlagen, gibt erfolglos auf. Abends auf der Couch erlegt Kundin ein Designer-Jäckchen (nur einmal getragen!) im Ebay-Jagdrevier - für 12 Euro!

4. Kundin betritt ein Haushaltswarengeschäft. Eine neue Knoblauchpresse wird gebraucht. Kundin stellt sich eine vor, die mit kleinen Metalldornen den Knoblauch durch passende Löcher presst. Kürzlich hat sie eine Abbildung gesehen, wo die Dornen auf zwei Seiten angebracht sind, so dass man durch Umdrehen des Geräts die nicht verwendbaren Reste aus den Löchern direkt in den Biomüllsack drücken kann.
Das Schöne an solch alten Haushaltswarengeschäften ist, dass Kundin tatsächlich von Fräulein, manchmal auch Herrn oder Frau Verkäufer wahrgenommen und bedient wird. So auch hier. Fräulein Verkäufer nähert sich freundlich und einsatzbereit. Leider wird Kundin in diesem Moment von akuten Wortfindungsstörungen überkommen, so dass sie dem Fräulein Verkäufer erzählt, sie suche eine Knoblauchpresse, die sich sozusagen selbst reinigt.
Fräulein Verkäufer: "Selbstreinigung gibts nur bei Tieren!"
Kundin: (schweigt verblüfft)
Kauft eine herkömmliche Knoblauchpresse und verlässt - tief in beinah schon philosophisch zu nennende Gedanken versunken - das Geschäft.

Sie lenkt ihre Schritte zur Parfümerie in der Nachbarschaft, denn die hat etwas im Angebot, woran die meisten Menschen ein ganzes Leben arbeiten:

"Harmonisierung von Geist und Körper in 30 Minuten! Nur 40 Euro."

Als Kundin braucht man die Fähigkeit, immer wieder von Neuem an das Gute zu glauben.

* in Erinnerung an Daphne Zahn (danke an Herrn Blue www.horst-blue.de und Frau Breisch )

Samstag, 8. Februar 2014

In memoriam

Der Anruf kommt kurz nach zehn an einem Samstagabend - ich sitze gerade mit einem Glas Wein vor irgendeinem TV-Krimi. Mein Vater sagt in demselben abrupten Tonfall, in dem er mir vor ein paar Jahren den Tod meiner Mutter mitgeteilt hat: "Die Ute ist im Krankenhaus auf der Intensivstation - ich mach mich jetzt auf den Weg." Ich begreife nicht gleich und bitte ihn, mich doch morgen anzurufen und zu erzählen, was es Neues gibt. Ich lege den Hörer auf. Eine Art Alarm fährt plötzlich durch meinen ganzen Körper. Mit flattrigen Händen suche ich die Nummer der Klinik heraus und lasse mich mit der Intensivstation verbinden. Diesmal fragt niemand, ob ich denn wirklich eine Verwandte sei und das Recht auf Auskunft habe. Eine nüchterne, nicht unfreundliche Stimme sagt: "Ja, Ihre Schwester wurde als Notfall eingeliefert. Sie liegt im Koma und wird wohl die Nacht nicht überleben."

Ich greife meinen Mantel, stopfe Zigaretten, Geld und Schlüsselbund in die Handtasche und eile aus dem Haus. Ich renne den ganzen Weg zur Bahn. Mit U- und S-Bahn brauche ich mindestens eine Stunde bis zu ihr. In der U-Bahn sind kleine Gruppen von Leuten unterwegs ins Nachtleben, während ich mit versteinertem Gesicht da sitze und unglaublich empört bin, dass alle einfach so weitermachen, wo doch meine Schwester stirbt.

Im S-Bahnhof angekommen merke ich verzweifelt, dass ich gerade den Bus verpasst habe. Während es in meinem Kopf hämmert "Ich komm' zu spät - ich komm' zu spät - zu spät - zu spät", reiße ich die Beifahrertür des nächsten Taxis auf und rufe: "Krankenhaus, Notaufnahme!". Es sind nur ein paar Minuten, und der Fahrer fährt am Haupteingang vorbei. Er weiß genau, wo er hin muss, aber ich fange fast einen Streit an, weil ich glaube, dass er falsch fährt und ich wertvolle Zeit verliere. Ich werfe ihm einen Geldschein hin und laufe durch Dunkelheit und Regen auf den Eingang zu. Beinahe pralle ich zurück vor dem plötzlichen kalten Neonlicht. Ich finde den Aufzug und drücke den Knopf für die Station. Der Aufzug fährt langsam, als wolle er mich verspotten. Andere steigen zu und wieder aus. Ich hasse sie aus tiefstem Herzen, weil sie mich aufhalten. 

Die Tür zur Station ist verschlossen. Ich klingele und warte. Inzwischen bin ich völlig außer mir, und dabei habe ich hysterische Frauen immer verachtet. Aus einer anderen Tür kommt ein Arzt und fragt, ob er mir helfen könne. "Meine Schwester liegt im Sterben, und niemand macht mir auf", schluchze ich. Er benutzt kurz sein Handy, und nach einer Minute öffnet sich die Tür. Eine Schwester fragt, wer ich bin und führt mich in das Zimmer. Es liegt im Halbdunkel. Mein Blick erfasst das Bett, auf einem Stuhl etwas entfernt an der einen Wand sitzt still mein Vater, und mein Schwager am gegenüberliegenden Bettrand auf dem zweiten Stuhl. Die Schwester holt für mich einen weiteren Stuhl, und ich setze mich meinem Schwager gegenüber. Seit Betreten des Zimmers bin ich völlig ruhig. 

Ich nehme die Hand meiner Schwester und rede, was mir gerade so einfällt. Ich erzähle ihr, dass die Quälerei jetzt vorbei ist und sie gehen kann, dass unsere Mutter auf sie wartet und die Oma, die sie so vermisst hat, dass sie auf uns keine Rücksicht nehmen muss - wir kommen schon klar. Dass wir uns wiedersehen, dass ich sie liebhabe, und was man alles sagt in so einem Moment. Ich wusste vorher nicht, dass es so sein wird. Ich wundere mich, was alles aus mir herausströmt. Nichts habe ich mir vorher überlegt. Es passiert einfach. 

Irgendwann nehme ich die Umgebung wahr. Die Maschine zeichnet nur noch die immer schwacher werdenden "Vitalfunktionen" - so nennt man das wohl - meiner Schwester auf. Ich finde es verrückt, dass ich sogar jetzt auf die richtige Bezeichnung aller Dinge achte. Die Herzschläge kommen unregelmäßig und setzen immer wieder für eine kleine Ewigkeit aus. Der Atem geht schwer, und auch hier gibt es sekundenlange Pausen. Es wäre schön, wenn ich jetzt einfach verrückt werden könnte, aber das geht nicht. Ich muss meine kleine Schwester verabschieden und stark sein. 

Nach einiger Zeit deutet mein Vater etwas ängstlich an, dass er jetzt nach Hause gehen möchte. Ich bin schockiert und schäme mich für ihn, weil er nicht einmal dies hier hinkriegt. Aber ich sage: "Ja, geh' ruhig. Du musst Dich ausruhen. Ich komme nach, wenn alles..." und dann weiß ich nicht, wie der Satz weitergehen soll. 

Mein Schwager will meinen Vater nach Hause fahren, aber er lehnt ab - er meint, der Spaziergang werde ihm gut tun. Wir bleiben ohne ihn zurück. Seit ein paar Stunden bin ich nun hier in dieser halbdunklen Welt mit seltsam fremden Geräuschen und Gebräuchen. Ich nehme mir eine Pause. Ich fahre mit dem Aufzug runter und stelle mich mit einer Zigarette vor die Tür. Außer einer Art Betäubung fühle ich nichts. Ich überlege, was ich fühlen müsste. Rauche hastig, und es treibt mich dann schnell wieder hinein.

Ich setze mich auf den Bettrand und streichele meiner Schwester die Wangen und über die Glatze. Seit der letzten Chemotherapie sieht sie aus wie ein kleiner Buddha, weil ihr ganzer Kopf angeschwollen ist. Sie sieht sich kaum noch ähnlich. Ich fange wieder mit meinem Singsang an und frage mich, ob ich das für sie oder für mich mache. Mein Blick geht immer wieder zum Schirm mit den farbigen Kurven. Die Nachtschwester, die ab und zu nach uns schaut, legt mir sanft die Hand auf die Schulter und sagt leise: "Sehen Sie da nicht hin"; dabei dreht sie den Bildschirm zur Wand. Ein gleichmütiger Teil in meinem Inneren registriert, wie freundlich hier alle zu uns sind. Auch das hatte ich mir nicht vorgestellt. Ich hatte mir gar nichts vorgestellt, im Gegenteil, ich wollte mich mit diesem unausweichlichen Moment einfach nicht beschäftigen in den drei Jahren nach der Diagnose. 

Ich weiß noch, wie ich nach dem ersten Googeln der Stichworte ganz naiv dachte: "Kleinzellig - also klein ist jedenfalls besser als groß. Das ist doch bestimmt was Gutes." Damals wusste ich absolut nichts. Aber das sollte sich bald ändern. 

Ich kehre in das Zimmer zurück. Die Atemzüge klingen jetzt, als ob ein sehr erschöpftes Wesen mit letzter Kraft versucht, doch noch irgendwie ans Ziel zu kommen. Aber was ist das Ziel? Es sollte doch leichter werden. Ich rede ihr weiter ruhig zu. So sitzen wir noch eine Weile.

Dann spüre und höre ich, dass es jetzt nicht mehr lange dauert. Ich habe schon mal über den letzten Atemzug gelesen, natürlich habe ich das. Und ich habe Sterbeszenen in Filmen gesehen, die mich zu Tränen gerührt haben. Das alles hat nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Kein Schauspieler kriegt dieses furchtbare Geräusch hin, kein Maskenbildner diese gelbe Hautfarbe. In einer Sekunde war meine Schwester noch hier - nun nicht mehr. Was da im Bett liegt, trägt keine Spur von ihr. 

Ich sitze noch eine Weile da, dann gehe ich in den Flur und sacke an der Wand zusammen. Und warte auf die Trauer oder wenigstens die Wut. Die Schwester bringt mir einen Becher mit Tee. 

Die Trauer kam erst sehr viel später. Noch lange habe ich meine Schwester ständig irgendwo gesehen. Noch lange wollte ich sie schnell mal anrufen oder dachte, ich müsse sie im Krankenhaus besuchen. Nicht mal die Beerdigung hat daran etwas geändert.

Ach, Schwesterchen - heute wäre Dein Geburtstag, und dass ich an Deinem Sterbebett saß, ist neun Jahre her. Manchmal denke ich gar nicht viel an Dich; manchmal erinnere ich mich mit einem Lächeln; oft erzähle ich Dir was Lustiges, und manchmal zerreißt es mir das Herz vor Vermissen. 

Und heute? Du bist so eine Art guter Geist für mich geworden. Die Trauer hat sich zu der Traurigkeit gesellt, die mich seit jeher begleitet. Die beiden vertragen sich gut, und ich freunde mich langsam mit ihnen an.











Freitag, 22. November 2013

Immer so nett!

Ich habe immer öfter Lust mich ungehörig zu benehmen. Ich meine damit, dass ich in bestimmten Situationen etwas Unerwartetes äußern oder tun möchte. Mein großes Vorbild ist Martina Hill http://www.martinahill.com/#2. Wobei die das ja nicht in echt macht. Sondern beruflich. Aber sehr inspirierend, das muss ich sagen. Wenn sie Kurse anböte - ich würde sofort buchen.

Gerade vorhin im Modeladen war so eine Gelegenheit: Ich war mit einem Shirt in der Hand zu der Dame hinterm Tresen gegangen und hatte gefragt, ob sie mir das Teil bis morgen zurücklegen würde. Die Antwort: "Nee, sowas tauschen wir nicht um." Am liebsten hätte ich laut gebellt oder etwas in der Art. Schlau wäre natürlich gewesen, mit einem:  "Ach wie schade, dann muss ich's eben wieder mitnehmen." den Laden energischen Schrittes zu verlassen. Aber schlagfertig bin ich immer erst später.  Ich weiß übrigens, dass das ein Widerspruch ist.

Kürzlich wurde ich in meiner Bankfiliale von einer Auszubildenden bedient, die ihre Unkenntnis durch Outfit-Maßnahmen zu kompensieren gezwungen war. An einem gewissen Punkt unseres Gesprächs hätte ich gern gesagt: "Wen willst Du eigentlich beeindrucken mit Deinen hochgezurrten Brüstchen, Du kleine Gans?!" Ungehörig. Aber ehrlich: wer hat jungen Frauen eingeredet, es sähe cool aus, sich die Brust unters Kinn zu schnallen? Wo bleibt die Würde? Die meisten Menschen müssen sich Würde natürlich erst erarbeiten. Mit 16 habe ich auch die seltsamsten Dinge angezogen und fand mich todschick. Wobei dieses Wort schon damals altmodisch war. Aber meine Patentante hat es oft gebraucht, und die war wirklich oft todschick. In den frühen sechziger Jahren war todschick sein durchaus erstrebenswert für junge unverheiratete Frauen wie meine geliebte Patentante.

Zurück zum Ungehörigen. Der Freund einer Bekannten von mir wäre ebenfalls ein gutes Vorbild: Er hat mal in der Zürcher Straßenbahn einen jungen Mann gebeten, sein Musikbeschallungsgerät etwas leiser zu stellen. Zur Antwort erhielt er ein Gezeter des Inhalts, dass man wohl Musik hören könne, wo und wann und wie laut auch immer man dazu Lust habe. Daraufhin stellte sich der Freund gegenüber diesem jungen Mann auf und sang laut, ruhig und konzentriert ein altes Schweizer Volkslied mit recht vielen Strophen. Vor solchen Menschen habe ich großen Respekt. Ich würde meinen Hut vor ihnen ziehen, wenn ich Hüte trüge. Manche Frauen haben ja ein Hutgesicht. Audrey Hepburn oder etwa Sophia Loren hatten ein Kopftuchgesicht. Ich habe wohl am ehesten ein Burkagesicht. In meiner Gegend haben Burkas eher keine Tradition. Wenn ich zum Beispiel ab morgen nur noch mit Burka das Haus verließe, gäbe es bestimmt Nachfragen. Besonders von meinen Nachbarn. Und ganz besonders von unserem Hausmeister. 

Seit einiger Zeit hängt an meiner Wohnungstür, wo andere Menschen ein Namensschild und / oder einen Spion angebracht haben, ein Foto von Ai Wei Wei. Es ist entstanden, als er endlich aus dem Gefängnis entlassen wurde. Es zeigt ihn, wie er gerade die Tür zu seinem Anwesen vom Innenhof aus schließt. Sein freundliches, erschöpftes Gesicht schaut den Betrachter zwischen der halb geschlossenen Tür und dem Türrahmen an. Für Menschen, die Ai Wei Wei und seine Beziehung zum chinesischen Regime nicht kennen, sieht es so aus, als würde der Mann auf dem Foto unerwarteten, aber nicht unerwünschten Gästen die Tür öffnen. So irreführend kann ein Bild sein. 

Unser Hausmeister kannte Ai Wei Wei nicht. Er fragte mich, ob dieses Bild mit dem freundlichen Mann böse Geister fernhalten solle. Keine schlechte Interpretation. Ich mag unseren Hausmeister.  

Mittwoch, 2. Oktober 2013

Fragen kann man ja mal

Wann wurde eigentlich das schöne und bewährte Wort "brauchen" durch das schnöde "benötigen" ersetzt? Welcher Reporter hat als erster gefragt: "Wie muss ich mir das vorstellen?" Er möge vortreten und sein Urteil empfangen. Der Erfinder von: "Wie fühlt sich das an?" kann sich sofort dazu gesellen. Wieso haben wir keine Gefühle mehr, sondern nur noch Emotionen?

Wann wurde das Wetter zum Event? Früher gab es ein Wetter. Ein älterer Herr verkündete am Vorabend, was wir so ungefähr zu erwarten hatten. Ich kann mich noch an Zeiten erinnern, da malte dieser Herr mit Kreide Sonne, Wolken und Regen auf eine Tafel. Im Rahmen des Fortschritts hantierte er später mit kleinen Pappwolken und -sonnen, die er an die richtigen Stellen auf der Karte heftete. 

Heute fragt ein Mann im hysterischen Tonfall, ob "wir" wohl morgen 25 Grad erreichen. Oder ob "wir" sogar die 30-Grad-Marke knacken! Wer ist eigentlich "wir"? Wir waren ja schon mal Papst - sind wir dann heute der liebe Gott? Aber Moment, für das Wetter ist ja Petrus zuständig. War der nicht der erste Papst? Sind wir dann doch wieder Papst? Ich komm' ganz durcheinander...

Und wer erfindet solche Ungetüme wie "Signalbedingt verzögert sich die Weiterfahrt" oder "Witterungsbedingt kann es zu Fahrplanabweichungen kommen". Der Begriff "Verspätung" ist wahrscheinlich bei Strafe mit einem Tabu belegt. Ich stelle mir vor, wie jemand das Wort eintippen will und darauf der Bildschirm bedrohlich anfängt zu flackern und die Tastatur blockiert. Ins Zimmer stürmt der Vorgesetzte und reisst dem Missetäter sämtliche Ehrenabzeichen herunter - so wie in dieser Westernserie. "Geächtet" hieß die, glaube ich. Da wurde Chuck Connors unehrenhaft aus der Armee geschmissen. Warum, daran kann ich mich gar nicht erinnern. Die signalbedingte Verspätung der Kavallerie könnte zum Beispiel ein Grund gewesen sein. Jedenfalls - unser Mann muss zunächst einen Crashkurs im Sprachgebrauch beim Öffentlichen Personennahverkehr absolvieren. Danach wird er zum Fahrkartenkontrolleur degradiert.

Sie können ihn daran erkennen, dass er nicht nach der Fahrkarte fragt, sondern: "Können Sie einen aktuellen gültigen Beförderungsberechtigungsausweis vorweisen?" Empfohlene Antworten sind: "Immer am  Mann!", "Allzeit bereit!" oder auch "Sir, yes, Sir!" oder so was Ähnliches....

Rückenschule Teil 1

Die Rückenschmerzen sind kaum auszuhalten. Und morgen muss sie geschäftlich nach England. Sie geht vorher noch die Mutter im Krankenhaus besuchen. Die empfängt sie mit den Worten: "Ach, meine Große!" Sie scheint ganz vergnügt, aber sie mag nichts essen. Sie lässt sich mit ein paar Löffelchen Apfelmus füttern. Die Tochter wird von einer Zärtlichkeitswelle überschwemmt. Nach einer Weile verabschiedet sie sich. Sie erwischt den Oberarzt und fragt ihn, ob etwas dagegen spricht, dass sie ein paar Tage verreist. Der Oberarzt erklärt ihr, dass die Mutter sich nicht mehr erholen werde; ihre Konstitution sei zu schwach, und sie werde sterben. Nicht heute oder morgen, aber bald. Und ja: sie könne ruhig wegfahren - in den nächsten Tagen seien keine dramatischen Entwicklungen zu erwarten. Dann macht er ihr noch ein Kompliment dafür, dass sie alles so vernünftig und gelassen aufnimmt. Ihr Vater und ihre Schwester seien da wohl etwas schwierig - ihre Schwester sei direkt hysterisch geworden, wenn er das mal so sagen dürfe. Sie bedankt sich brav. Draußen auf dem Gang muss sie sich anlehnen. Sie rutscht langsam an der Wand herunter, und die Tränen schießen ihr aus den Augen. Wie in Trance fährt sie nach Hause und packt.

Weil Ihre Chefin schon länger andeutet, dass sie Ihr die Rückenschmerzen nicht glaubt, arbeitet sie auf der Messe extra hart. In einer Mischung aus Wut und Trotz schleppt sie Kisten mit Katalogen und richtet mit ihrer Kollegin den Stand ein. Dann nutzt sie jede Gelegenheit herumzulaufen, weil nur so die Schmerzen halbwegs erträglich sind. Abends im Hotelbett denkt sie an ihre Mutter und versucht, im Sitzen ein bisschen zu schlafen. Am zweiten Tag geht nichts mehr. Sie teilt dem Team mit, dass sie an diesem Abend schon nach Hause fliegt, weil sie sonst womöglich hier in einer Klinik landet. Sie überlegt, was eigentlich Bandscheibenvorfall auf Englisch heisst. Irgendwas mit prelaps?

Spätabends in ihrer Wohnung angekommen, hört sie ihre Mailbox ab. Ein paar Anrufe von Freunden, dann die Stimme ihres Vaters: Gestern Nacht ist die Mutti gestorben. Auf Wiederhören. Alles in ihr krümmt sich zusammen. Sie macht sich ganz klein. Dann läuft sie wie ferngesteuert in der Wohnung auf und ab und hört sich selbst ganz verrückt wimmern. Eine Stimme sagt ständig: Oh nein oh nein oh nein, eine andere: Ich war nicht da, ich war nicht da. Dabei kommt sie sich vor, als würde sie eine oft gesehene Filmszene nachspielen. Ich bin ein Klischee, denkt sie: Junge Frau erhält schreckliche Nachricht und dreht durch. Sie wird etwas ruhiger und ruft eine Freundin an. Die sagt: ich bin gleich da. Als sie kommt, gehen sie in die Kneipe gegenüber. Die Freundin verordnet mäßiges Betrinken. Beim Bier erzählt sie die ganze Geschichte: vom letzten Krankenhausbesuch, vom eiskalten Oberarzt, vom geschäftsmäßigen Anruf ihres Vaters. Wie sie den Flug bis kurz vor der Landung im Stehen bei den Stewardessen verbringen durfte. Als sie dabei ankommt, wie die mütterlichen British-Airways-Ladies ihr einen Gin Tonic nach dem anderen brachten, lachen die beiden Tränen. Sie weint noch ein bisschen, dann bringt ihre Freundin sie ins Bett und fährt nach Hause.

Schon am nächsten Tag liegt sie in einem Krankenhausbett. Selig lächelt sie den Infusionsbeutel an, aus dem das Schmerzmittel sie langsam ins Nirwana tropft.







Freitag, 19. Juli 2013

Kinderlandverschickung

Das Kind fährt auf eine Insel. Dem Kind soll etwas Gutes getan werden. Seit einiger Zeit sieht es so blass aus. Es wird immer schmaler und ist weitgehend verstummt. Die Reisevorbereitungen dauern Wochen und werden gewissenhaft durchgeführt. Namensschildchen werden in Kleidungsstücke genäht. Ein Badeanzug wird ausgesucht. Mutter und Großmutter überlegen hin und her, was in den Koffer soll. Alles, wirklich alles, muss auf einer Liste vermerkt werden. Diese Liste kommt in einen Briefumschlag. Zusammen mit anderen wichtigen Papieren wird sie in einem Etui dem Kind um den Hals gehängt.

Dem Kind ist sehr bang. Es wurde nicht gefragt. Es soll sich freuen. 

Als alle zusammen zum Bahnhof fahren, ist es schon dunkel. Der Zug fährt über Nacht, und die vielen Kinder werden auf die Plätze verteilt. Die Großmutter hat dem Kind auf dem Bahnsteig schnell und heimlich ein Geschenk in die Hand gedrückt: ein hübsches kleines Portemonnaie mit einem Fünfmarkstück. Im Abteil ist es gar nicht so schlecht. Die anderen Kinder sind genauso aufgeregt und nicht böse, wie befürchtet. Die Polstersitze werden zu Liegen herausgezogen. Trotz der Aufregung schläft das Kind ein. 

Das Kinderheim liegt nah am Strand. Das Meer ist schrecklich und wunderschön. Gleich am zweiten Tag ertrinkt das Kind beinahe. Die Tanten hatten befohlen, dass alle sich an den Händen fassen und zusammen ins Wasser laufen. Das Kind war brav und lief. Die zwei älteren Kinder, die es an den Händen hielten, zogen es rechtzeitig heraus. 

Ein älteres Mädchen von zu Hause soll sich ein bisschen um das Kind kümmern. Das Mädchen klaut Sachen. Das Kind beobachtet, wie das Mädchen kleine Taschen, die es genommen und geleert hat, am Strand vergräbt. Wenn es was erzählt, wird ihm etwas Schlimmes passieren. Das Kind sagt sowieso nichts.

Das Essen im Heim ist nie genug. Alle haben ständig Hunger. Am schönsten ist, wenn es sonntags Kakao und Kuchen gibt. Das Kind hat zwei Freundinnen gefunden. Sie sind im selben Schlafsaal und haben zusammen Heimweh. Sie sind die drei Jüngsten. Das Kind kann schon ein bisschen schreiben. Es schreibt an den Vater, dass er sie alle drei retten soll. Er soll mit seinem Auto herkommen und sie nach Hause holen. Das Kind kann nicht wissen, dass die Tanten alle Briefe lesen und nur die schönen zur Post geben.

Das Kind liebt das Meer, und auf die Spaziergänge durch die Dünen und an den Strand freut es sich jeden Tag. Die Tanten gehen voran, und wenn sie an einer Stelle mit Nackten vorbeikommen, rufen sie laut und wedeln mit den Händen. Die Kinder müssen dann woanders hingucken. Sie sehen aber trotzdem etwas. Sie kommen sich komisch vor, weil sie angezogen sind. Die Nackten sind einfach nur nackt. 

Ein paar Kinder sammeln eine Riesenmenge kleiner Frösche und legen sie der schlimmsten Tante ins Bett. Das ist ein schöner Abend, als das Kreischen durch die Gänge hallt.

Irgendwann fällt das Klauen auf. Ein Täter wird gesucht. Das Kind kommt in Verdacht. Die Tanten finden das Portemonnaie mit dem Geldstück. Das steht nicht auf der Liste. Das Kind kann nichts erklären. Es wird in ein kleines Zimmer gesperrt und soll nachdenken. Weiter passiert nichts. Die Diebin macht vielsagende Grimassen. Das Kind schweigt.

Am Ende gibt es ein großes Abschiedsfest. Das Kind muss auf der Bühne ein Lied singen und in einer Scharade mitspielen. Alle haben sehr viel Spaß.

Im nächsten Sommer sagt die Mutter, dass das Kind wieder auf die Insel darf. Das Kind fängt an zu weinen. Endlich kann es erzählen, wie es wirklich war.

Die Insel liebt es für immer.





Freitag, 12. Juli 2013

Dilemma

Manche Dinge möchte man vielleicht lieber nicht wissen.

Ich habe einen guten Bekannten, den ich bei einem Couchsurfing-Event getroffen habe. 

Was ich bisher von ihm wusste:

Er ist gebürtiger Ägypter, Londoner, Familienvater, beruflich erfolgreich, polyglott, unglaublich herzlich, gastfreundlich, humorvoll, zuverlässig, hilfsbereit, Muslim.

Obwohl wir uns kaum kennen, mag ich ihn von Herzen gern und freue mich immer, ihn zu sehen. Wobei das naturgemäß selten ist.

Das letzte Mal hatten wir ein arabisches Frühstück mit einer weiteren Couchsurfing-Freundin in London, bevor ich wieder nach Hause flog. Ich erinnere mich noch daran, wie viel wir gelacht haben, und wie unkompliziert und bereichernd das Gespräch zwischen uns war - drei Menschen völlig unterschiedlicher Herkunft. Ich bin ja eh' eine sentimentale Nudel, und solche Erfahrungen verstärken dann immer ein bisschen den Glauben an uns Menschen insgesamt. 

Wir sind natürlich auch auf Facebook verbandelt. Nun habe ich einige Kommentare zur aktuellen Lage in Ägypten gelesen, bei denen ich schon ein bisschen gezuckt habe innerlich. Letzte Neuigkeit: Beitritt zu einer Gruppe, die den Muslimbrüdern anhängt. 

Ich kann die Wut von Mursi-Anhängern nachvollziehen darüber, dass ihr demokratisch gewählter Präsident undemokratisch abgesetzt wurde. Seine Politik und die Ziele der Muslimbrüder sind eine ganz andere Geschichte.

Ich fühle mich ein bisschen so, als hätte ein alter Freund mir beiläufig erzählt, dass er Beate Zschäpe Liebesbriefe in den Knast schickt.

Ich bin ratlos.




Mittwoch, 10. Juli 2013

Be-Vaterung oder: Braves Mädchen

Mein Vater, zu dem ich in den letzten Monaten nur sporadisch telefonischen Kontakt hatte, versucht mich zu einem Besuch zu verlocken. Mit der Aussicht auf Geld. Ich bin durchaus bestechlich - dies würde ich zum Beispiel als Schmerzensgeld oder Entschädigung betrachten. Wobei mein Vater mir auch schon mal 10,00 Euro zu Weihnachten geschenkt hat und nicht verstand, wieso ich mich nicht gefreut habe. Ich sollte also vorher eine Kosten-Nutzen-Aufstellung machen und dazu mehr Informationen einholen. Denn kosten wird mich der Besuch garantiert etwas. Überwindung wäre das Erste.

Mein Leben lang habe ich versucht, eine gute Tochter zu sein. Ich höre gerade erst damit auf bzw. befinde mich in der Kündigungsphase für diesen Job. Der ist nämlich extrem undankbar und endet garantiert mit einem Burnout. Die Anforderungen sind beim besten Willen nicht zu erfüllen.

Eine Zeit lang dachte ich, es würde sich dadurch etwas ändern, dass mein Vater und ich als Rest-Familie übrig geblieben sind. Ich hatte mir gewünscht, dass wir gemeinsam um meine Schwester trauern könnten. Das war wohl sowieso naiv. Mein Vater hat - wie ich erst jetzt beginne zu begreifen - sich vor langer Zeit schon abgewöhnt, überhaupt etwas zu fühlen. Das hat er mit vielen Männern seiner Generation gemeinsam.

Das Buch "Die Kinder der Kriegskinder" von Sabine Bode hat mir geholfen, unsere Familiengeschichte in einem größeren Zusammenhang zu sehen. Allein die Entdeckung, wie viele Menschen meiner Generation ganz ähnliche Geschichten und Schicksale haben, hat mich getröstet. Die Lektüre hat mir das Gefühl genommen, dass ich allein ganz besonders gestört bin, und auch noch selbst dran schuld. 

Männer wie mein Vater haben oft nur diesen Schluss aus ihren Erfahrungen ziehen können: Empathie ist viel zu gefährlich, und neuer Schmerz muss unbedingt vermieden werden. Damals war dieses Verhalten überlebenswichtig. So eine Programmierung an neue Umstände anzupassen oder gar zu löschen, ist richtige Arbeit und dauert seine Zeit - wenn nicht sogar das ganze Leben. Wer wüsste das besser als ich. 

Aber vor allem muss man es selber wollen: Leidensdruck ist eine Voraussetzung für dieses Unternehmen. Bei mir war der irgendwann größer als die Angst vor Veränderungen. Als ich das erste Mal eine Verbesserung erlebt habe, hat mich unglücklicherweise ein missionarischer Eifer erfasst, und ich wollte alle mir nahe stehenden Menschen auf den Weg des Heils führen. Ach ja, es gibt viel zu lernen, wenn man erstmal damit angefangen hat. Rückblickend sehe ich durchaus die Komik darin, aber für meine Umgebung muss ich ziemlich unerträglich gewesen sein. 

Heute kann ich auch meinen Vater anders ansehen als früher. Ich kann besser auf mich aufpassen und weiß zum Beispiel, dass ich keine typischen Vaterdinge von ihm erwarten darf. Dafür überrascht er mich dann immer häufiger mit unerwarteter Fürsorge. Auf seine Art.

Der Besuch ist für nächste Woche geplant. Ich bin gewappnet und gespannt.



Dienstag, 9. Juli 2013

Dancing Queen

Die junge Frau tanzt. Dass sie dabei gut aussieht, kann sie an den Blicken der Männer erkennen. Das kleine Mädchen, das sie einmal war, hat sie in eine dunkle Kammer gesperrt. Sie hat es fast vergessen. Beim Tanzen vergisst sie alles. Sie ist eine andere. 

Sie ist die, die sich wie nebenbei umschaut, wen sie nachher in ihr Bett mitnimmt. Sie wirkt cool und ist doch eine leichte Beute. Sie ist die, nach der man fragt, wenn sie einmal nicht im Club auftaucht, aber davon weiß sie nichts. Über die geredet wird mit Bewunderung und Neid, aber davon weiß sie nichts. Die einen geheimnisvollen Eindruck macht und als unnahbar gilt. Wüsste sie davon, wäre sie sehr erstaunt. 

Sie glaubt, sie sei immer noch dieselbe wie früher. Aber sie sieht ganz anders aus. Endlich ist sie nicht mehr das dicke Kind.  Sie war eine Weile fort und kam verwandelt zurück. Endlich will sie leben und Spaß haben. Endlich gehört sie dazu. Glaubt sie. 

Sie wünscht sich einen, der sie durchschaut. Sie tut alles, um nicht durchschaut zu werden. Wenn es ihr gelingt, ist sie bitter enttäuscht.

Die Kleine ruft nach ihr, aber sie will nicht hören. Sie weint leise, aber wird nicht getröstet. Erst am nächsten Morgen sind sie wieder zusammen und allein.

Lieblingsgedichte

Dies hier ist natürlich ein Gebet und nicht bloß ein Gedicht. Ich bin nicht gläubig und schon gar nicht christlich, aber den Text finde ich wunderbar. Aus irgendeinem Grund hat er mich sofort angesprochen.  Ist mir völlig schleierhaft. 

Das Gebet wird Theresa von Ávila zugeschrieben, und wenn das stimmt, war sie eine weise Frau mit viel Humor. Eine Ahnung davon finde ich ihrem Porträt auf der Wikipedia-Seite. Aber lest selbst:


Gebet des älter werdenden Menschen

Oh Herr, Du weißt besser als ich, dass ich von Tag
zu Tag älter und eines Tages alt sein werde.
Bewahre mich vor der Einbildung, bei jeder
Gelegenheit und zu jedem Thema
etwas sagen zu müssen.

Erlöse mich von der großen Leidenschaft, die
Angelegenheiten anderer ordnen zu wollen.

Lehre mich, nachdenklich (aber nicht grüblerisch),
hilfreich (aber nicht diktatorisch) zu sein.

Bei meiner ungeheuren Ansammlung von Weisheit
erscheint es mir ja schade, sie nicht weiter-
zugeben. Aber Du verstehst - oh Herr - dass
ich mir ein paar Freunde erhalten möchte.
Bewahre mich vor der Aufzählung endloser
Einzelheiten und verleihe mir Schwingen,
zum Wesentlichen zu gelangen.

Lehre mich schweigen über meine Krankheiten und
Beschwerden. Sie nehmen zu - und die Lust,
sie zu beschreiben, wächst von Jahr zu Jahr.

Ich wage nicht, die Gabe zu erflehen,
mir  Krankheitsschilderungen anderer
mit Freude anzuhören, aber lehre mich,
sie geduldig  zu ertragen.

Lehre mich die wunderbare Weisheit,
dass  ich mich irren kann.
Erhalte mich so liebenswert wie möglich.
Ich möchte kein Heiliger sein, mit ihnen lebt
es  sich so schwer, aber ein alter Griesgram
ist  das Krönungswerk des Teufels.

Lehre mich, an anderen Menschen
unerwartete Talente zu entdecken und
verleihe mir, oh Herr, die schöne Gabe,
sie auch zu erwähnen.


Theresia von Avila




Montag, 8. Juli 2013

Fahrt ins Grüne - äh - Blaue

Seit diesem Frühjahr bin ich Neu-Gärtnerin. Mit einer Freundin habe ich ein kleines Gärtchen am Stadtrad gepachtet, und diese Freundin hat ein Auto. So konnten wir immer mal spontan nach unserem jungen Gemüse sehen. 

Nun ist meine Freundin in den Urlaub gefahren -  ich erwähnte es schon - und das hat außer Verwaisung und Verwahrlosung auch noch andere Folgen: ich bin auf den ÖPNV angewiesen. Der hat eine Website, bei der man nach Verbindungen suchen kann. Mit der Seite habe ich so meine Erfahrungen. Aber ich übe mich ja gerade in Vertrauen, und deshalb habe ich vor einigen Wochen via Web schon einmal eine Fahrt zum Gärtchen geplant. Ich wusste, dass genau an dem kleinen Zugang zu den Feldern eine Bushaltestelle ist. Die wiederum liegt gegenüber einer ALDI-Filiale. Ich also ganz schlau die Adresse des Marktes als Fahrtziel eingegeben und tatsächlich eine Verbindung erhalten. Die schien mir plausibel, also machte ich mich zuversichtlich auf den Weg. Mit "plausibel" meine ich, dass der Verkehrsverbund mich nicht zunächst in eine andere Stadt schicken wollte, und die Fahrtzeit nicht mit fünf Stunden angegeben war. Auch das kommt vor. 

Brav folgte ich also dem Verbindungsplan. Nur, um am anderen Ende des Dörfchens zu stranden. Ich kam mir ziemlich dämlich vor, als ich an der Endhaltestelle immer noch im Bus saß, mich über die unbekannte Gegend wundernd, während der Fahrer endlich Pause machen wollte. 

Heute wollte ich ein ähnliches Erlebnis vorher ausschließen und guckte direkt nach dem Bus, der an der besagten Haltestelle hält, oder abfährt, oder wie auch immer....

Diese Buslinie war der Website unbekannt. Ich probierte ein paar Tricks, um sie zu überlisten, aber ohne Erfolg. Unsere Pflänzchen sollten aber noch heute vor dem Verdursten gerettet werden. Daher versuchte ich es diesmal mit der Telefon-Hotline. 

Natürlich habe ich nicht damit gerechnet, sofort mit einem lebendigen Menschen sprechen zu können. Man ist ja nicht blöd oder erst gestern aus dem Nest gefallen. Die Ansage lautete allerdings: "Wir VERSUCHEN, Sie mit einem Mitarbeiter zu verbinden." Das lässt schon Böses ahnen. Ein kluger Therapeut meines Vertrauens hat mal gesagt: Versuchen heißt Scheitern. Das leuchtet ein. Man muss sich nur vorstellen, wie man selber sagt: Ich versuche mit dem Rauchen aufzuhören. Oder: Ich versuche, mehr Sport zu machen. Da klingt doch quasi auf der zweiten Tonspur mit: Ich glaube selber nicht dran. Also das wird nix. Aber versucht habe ich es.

Nachdem die freundliche Telefonstimme diesen Versuch fünfmal angekündigte hatte, wurde ich aus der Leitung geschmissen. Das Ganze insgesamt dreimal; bei mehr Anrufen hätte ich mich geschämt und mein Gesicht verloren, auch wenn's außer mir niemand gemerkt hätte. Also ich hätte vor mir selbst mein Gesicht verloren. 

Was soll man sagen? 

In gnädiger Stimmung vielleicht Folgendes: Der Telefonservice zeigt eine erstaunlich gute Selbsteinschätzung, denn Versuche können nun mal so oder so ausgehen. In diesem Fall halt so.

Unverhofftes Happy End: 

Als ich gerade meinen Telefonhörer angeschnauzt hatte, riefen zwei Gärtnerfreunde an, um zu fragen, ob sie mich abholen sollten - sie würden spontan mit dem Auto ins Gärtchen fahren. Juhu!

Sonntag, 7. Juli 2013

Favourite Poems

Listen to the mustn'ts, child; listen to the don'ts,
Listen to the shouldn'ts, the impossibles, the won'ts,

Listen to the never haves, then listen close to me:
Anything can happen, child, 

Anything can be.

Shel Silverstein

I like to have a martini,
Two at the very most.
After three I'm under the table,
After four I'm under my host.

Dorothy Parker


 

Lost Weekend?

Wochenende - das, worauf sich alle anderen freuen - ist für mich oft der Horror.

An Wochenenden - und ganz besonders an Sommer-Wochenenden - fühlen einsame Menschen die Einsamkeit verstärkt. Vermeintlich alle anderen (da geht's schon los - Sätze, die mit "alle", "niemals", "immer" etc. beginnen, führen meist ins Unheil)....jedenfalls: in meiner Vorstellung haben alle anderen das ganze Wochenende lang ununterbrochen Spaß, und zwar mindestens zu zweit.

Die Gedankenspirale geht ungefähr so: ich habe nun schon jahrelang an mir herumoptimiert und bin immer noch allein und oft einsam. Wozu war das alles dann gut? Bringt es überhaupt was, mich weiter anzustrengen? Wer hat schon Lust auf eine Freundschaft mit einer alten Looserin? Außerdem: alle anderen haben ihr Leben erfolgreich im Griff und gar keinen Bedarf an neuen Kontakten. Ich muss eben mit den Krümeln vorlieb nehmen, die vom reich gedeckten Tisch der anderen herunterfallen. So ist es immer gewesen, und so wird es immer sein. Und so weiter und so weiter bis zum Gehtnichtmehr. Und dann geht wirklich nichts mehr.

Dieses Wochenende ist mir besonders bang, denn meine engsten Bezugspersonen fahren alle gleichzeitig in den Urlaub. Nicht miteinander, denn alle anderen Menschen (siehe oben) haben natürlich auch jemanden, der gern mit ihnen in den Urlaub fährt. Im Gegensatz zu mir. Und außerdem kann ich mir schon lange keinen Urlaub mehr leisten. Und schon sind wir wieder in voller Fahrt, mein armes Neurotiker-Hirn und ich.

HEUL!

Was tun? Die Psycho-Arbeit war ja nicht völlig umsonst. Sobald ich mich wieder einkriege, erinnere ich mich daran, dass Differenzieren zum Handwerk gehört, und schon sieht die Welt etwas anders aus. 

Es gibt viele kluge Sätze zu dem Thema; folgende gehören allerdings nicht dazu:

Geh' doch mehr unter Leute!
Wahlweise: Mach mal einen Töpfer-, Photo-, Tanz-, Blabla-Kurs!

Das ist genauso sinnvoll wie die Aufforderung an Magersüchtige: Dann iss halt was!  

Aber diese schon:

Du kannst zwar die Umstände nicht sofort ändern, aber Deine Sicht derselben.
Beweg' Dich! (durchaus wörtlich zu nehmen)

Und natürlich dies hier als Soforthilfe - ich werde mit No. 5 anfangen. 

Es ist ja erst Sonntag Nachmittag.














Donnerstag, 4. Juli 2013

More Cat Music - Independent Woman acc. to rathergood.com

Freude und Leid

Ich bin eine alte Krimi-Tante. Manchmal muss ich mich regelrecht zwingen, was "Anständiges" zu lesen. Aber zur Zeit verschlinge ich die Thriller von Ann Cleeves mit ihrer Detektivin Vera Stanhope. Die ist mir schon deshalb sofort ans Herz gewachsen, weil sie als groß und breit und etwas schlampig beschrieben wird. Natürlich hat sie auch eine zarte Seite, aber Ihre Erscheinung nutzt sie, um Ihre Gegner in Sicherheit zu wiegen und dann überraschend scharfsinnig zuzuschlagen. Sie wird natürlich unterschätzt - was soll so 'ne dicke, grobschlächtige und nicht mal gut angezogene Frau schon draufhaben. Ich würde ihr gern eine Typberatung vorschlagen, und sie würde sich mit Händen und Füßen und bissigen Bemerkungen dagegen wehren. 

Sei dem wie es sei - die Protagonistin ist wunderbar kratzbürstig, die Charaktere durchweg interessant, die Geschichten psychologisch verzwickt, und nicht zuletzt spielt die Landschaft - das englische Northumberland - eine wichtige Rolle. Man kriegt direkt Lust, sich die herbe Gegend am Meer selbst mal anzusehen. 

So habe ich gerade einen der auftauchenden Ortsnamen gegoogelt. Das erste Ergebnis: der Ort ist fiktiv. Ich bin dann aber auf einer wunderbaren Website für Krimifans gelandet: Wheredunnit. Abgeleitet von Whodunnit, womit der klassische Krimi beschrieben wird, und was sich mit "Wer war's?" übersetzen lässt. In diesem Blog werden die Handlungsorte erkundet - ob authentisch oder fiktiv. Eine schöne Idee. Ich habe mich erst nur kurz umgeschaut und viel Lesefutter über einige Lieblingsautoren gefunden, etwa über Stieg Larsson, Hakan Nesser, Val McDermid und andere. An einer Stelle bedauert die Autorin, dass offenbar so wenige deutsche Krimis ins Englische übersetzt werden. Die Frau war mir sympathisch, und ich wollte gern mehr erfahren.

Dann fiel mir auf, dass der Blog im Jahr 2009 endet. Das allein ist ja nichts Besonderes. Aber als ich dann in einem der letzten Posts las, dass die Autorin eine Krebsdiagnose erhalten hatte und über diese Erfahrung in einem neuen Blog berichten wollte, wurde mir schon etwas bang. Ich schaute mir ihren "Cancer Blog" an, und auch dieser endet 2009. Der letzte Eintrag lautet "Just my rotten luck".

Natürlich weiß ich nicht, ob meine Phantasie zutrifft. Aber ihre Berichte über den Verlauf der Krankheit geben keinen Anlass zum Optimismus, und der Krimi-Blog sieht aus wie einer, der mit Begeisterung und Sorgfalt gestaltet wurde. Der also nicht einfach so aufgegeben wird.  

Das Internet führt zu seltsamen und überraschenden Erfahrungen. So lese ich den Krimi-Blog mit Freude und Bedauern und trauere um eine mir völlig unbekannte Frau.  





Dienstag, 2. Juli 2013

Michael Haneke: Funny Games

Mit einiger Verspätung habe ich endlich diesen Film gesehen - nicht das Original, sondern das US-Remake, dass Haneke von seinem eigenen Film gedreht hat.

Nachdem ich "Das weiße Band" als einen extrem beunruhigenden, sogar gruseligen Film in Erinnerung hatte und die Geschichte von "Funny Games" im Groben kannte, war ich dennoch nicht vorbereitet auf diese Erfahrung. Um einen amerikanischen Kritiker sinngemäß zu zitieren: Haneke scheint mehr an der Bestrafung als an der Unterhaltung seines Publikums zu liegen.

Für alle, die die Story noch nicht kennen: 

Eine gut situierte, recht glücklich wirkende Familie fährt in ihr Wochenendhaus auf Long Island. Kurz vor der Ankunft bemerken sie zwei junge Männer, die scheinbar bei ihren Nachbarn zu Besuch sind. Etwas kommt ihnen seltsam vor, aber sie achten nicht weiter darauf. Später kommen diese jungen Männer unter einem Vorwand ins Haus, wo sie zunächst Anna, die Frau und Mutter, allein antreffen. Die Situation wird schnell sehr unbehaglich, dennoch bleibt die Frau lange Zeit freundlich und geduldig. Dann fordert sie die beiden jedoch auf zu gehen. Bei der Rückkehr von George, ihrem Mann, und Sohn Georgie eskaliert das Ganze, und die jungen Männer nehmen die Familie in ihre Gewalt. Fortan werden sie die drei eine ganze Nacht auf das Grausamste quälen - bis zum bitteren Ende. 

Bei Hanekes Filmen wird üblicherweise der Zuschauer zum Voyeur oder gleich zum "Partner in Crime", und das gilt für diesen Film in besonderem Maße. Wir sehen und ahnen Schreckliches und können unsere Augen nicht abwenden. Das Erschreckende an der Gewalt ist ihre völlige Motivlosigkeit. Nichts wird erklärt oder begründet. Die beiden Täter zeigen exquisite Umgangsformen, wie gut erzogene Upper Class-Söhne. Folter und Gewalt werden nicht gezeigt, sondern nur angedeutet. Sie passieren so dermaßen nebenbei, dass ich einige Momente brauchte um zu bemerken, dass der kleine Sohn nicht mehr am Leben war. Umso grausamer ist die Wirkung. 

Was mich beschäftigt hat an dieser Geschichte ist das Thema der Zerbrechlichkeit unserer Zivilisation im Sinne eines Kontrakts zwischen allen, die einer Gesellschaft angehören (wollen). Die Familie repräsentiert uns - oder die meisten von uns - die sich auf einen Konsens über bestimmte Verhaltensregeln verlassen. Auf einen Rahmen, der zuverlässig nicht übertreten wird. Sobald man auf Gegner trifft, die diesen Rahmen längst verlassen haben, gibt es keinen Anknüpfungspunkt mehr, und man ist verloren. 

Dazu kommt in der Geschichte eine Schwachstelle in der Familie, genauer beim Paar Anna und George, die es den Tätern erst ermöglicht, dort einzudringen. Für mich nimmt das Verhängnis in dem Moment seinen Lauf, als George der Bitte von Anna, die beiden des Hauses zu verweisen, nicht umstandslos nachkommt. Wie ein guter liberaler Amerikaner findet er es angebracht, zunächst alle Beteiligten am Konflikt anzuhören, und dann womöglich eine friedliche Lösung zu finden. Diese Naivität und die Tatsache, dass er seiner Frau nicht bedingungslos vertraut, besiegeln letztendlich das Schicksal seiner Familie. 





And now for something completely different: MitchiriNeko March

Ich blogge, also bin ich?

Bloggen also. Es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich mich mit meinen Äußerungen zeigen konnte und wollte. Ich weiß nicht, wohin das hier führen wird - ich habe kein Projekt, über das ich kontinuierlich berichte, wie etwa Julie Powell, die sich durch Julia Childs' Kochbuch kochte, und deren Geschichte immerhin mit Meryl Streep verfilmt wurde. Übrigens ein wunderbarer Film. Ich habe noch nie jemanden so markant "Bon appétit!" schmettern hören. Aus Julie Powell ist inzwischen offenbar eine begeisterte Metzgerin (!) geworden, und der letzte Eintrag in ihrem Blog stammt vom Herbst 2010.

Ich habe noch nicht einmal ein spezielles Thema - entgegen allen Ratschlägen, die man für Neublogger parat hält. In den Büchern, Blogs, Websites steht dazu ohne Ausnahme, das Wichtigste sei, sich zu spezialisieren. Nicht mit mir. Ich interessiere mich für so ziemlich alles. Naja. Stimmt nicht. Fürs Metzgern etwa kann ich mich bisher nicht begeistern, aber man soll nie "nie" sagen. Eine meiner Lieblingsbeschäftigungen ist "Vom Hölzchen aufs Stöckchen kommen". 

Mein Lebensthema war von klein auf die Scham. Ich schämte mich für alles und jedes, da ich als Kind gelernt hatte, an allem Schuld zu sein. Nur konsequent, dass ich mich später auch dafür schämte, nichts wirklich gut zu können, sondern von vielen Dingen nur ein bisschen was zu verstehen. Es gab natürlich Sachen, die ich richtig gut konnte, aber das habe ich kaum wahrgenommen. Als Mädchen wollte ich abwechselnd Opernsängerin, Schlagersängerin (keine Probleme mit E- und U-Kultur für mich), Forscherin, Modezeichnerin, Reporterin, Schriftstellerin, Regisseurin und noch einiges Andere werden. Ich weiß noch, wie ich mit bewundernswert geduldigen Spielkameraden auf dem Platz vor unserem Wohnblock Theaterstücke einstudierte, die während der Proben erst entstanden. Eigentlich ein recht modernes Konzept, fällt mir heute auf. Ich wunderte mich auch kaum, dass alle auf mein Kommando hörten. Leider ist mir diese Autorität später irgendwie abhanden gekommen.

Diese scheinbare Ziellosigkeit anders zu betrachten, verdanke ich - wie so Vieles - einem Buch. Ich sah den Titel "Ich könnte alles tun, wenn ich nur wüsste, was ich will" und dachte, das ist speziell für mich geschrieben. War es auch. Wie für die vielen anderen Menschen, die unterschiedlichste Interessen hatten und sich deswegen schlecht fühlten, bis Barbara Sher - die Autorin - kam, uns alle tröstete und uns zeigte, dass das auch etwas Schönes sein kann. Klingt banal, hat aber Einiges ausgelöst.

Ein Motiv für den Blog ist: Mit der Scham soll es vorbei sein. Deshalb stehe ich auch mit meinem Namen dafür ein. Und da ich gerade in vielen Bereichen meines Lebens experimentiere, passt dieses spezielle Experiment dazu.

Mein beruflicher Weg ähnelt seit langer Zeit einer Achterbahn, nur ohne Sicherheitsvorkehrungen. Ab einem bestimmten Alter und mit einem befristeten Job nach dem anderen kann man jederzeit aus der Kurve fliegen. Im Moment fahre ich in eher gemächlichem Tempo in einem langen Tal und habe Zeit zu überlegen. Noch drei Monate, dann droht Harz IV. Im Hartz war ich schon mal* und möchte nicht wieder hin. Bis dahin will ich also einen Teilzeitjob gefunden haben, der mir Zeit und Energie übrig lässt, meinen kleinen Freelance-Gemischtwarenladen auszubauen. 

Die Modeabteilung wird hoffentlich bald eröffnet.

Watch this space.


* Skurrile Geschichten aus dem Hartz demnächst in diesem Theater.



Sonntag, 30. Juni 2013

Favourite Quotes

My life was full of horrible events that actually never even happened.
Michel de Montaigne

For beautiful eyes, look for the good in others; for beautiful lips, speak only words of kindness; and for poise, walk with the knowledge that you are never alone.
Audrey Hepburn