Natürlich muss ich genau an dem Tag in Urlaub fahren, an dem der unbefristete Streik der GDL beginnt.
Nach
einer fast schlaflosen Nacht – teils dem Reisefieber geschuldet und
teils der Tatsache, dass ich wie unter Zwang andauernd die neuesten
Streik-meldungen checken musste – steige ich endlich um sieben Uhr
morgens in den Zug nach Berlin. Eine junge Frau – nicht gerade
strahlender Laune oder gar in Plauderstimmung – sitzt neben mir.
Sie verteilt ihre Besitztümer raumgreifend um sich herum, arbeitet
auf ihrem Notebook und muss später an einer Telekonferenz
teilnehmen. Natürlich höre ich
nur ihre Beiträge oder besser Versuche, aber die sind recht
eindeutig: "Ich bin der Meinung...."...."Also ich finde ja...." …."Wenn ich dazu etwas sagen darf...."... "Aber hatten wir nicht
ursprünglich vereinbart..." und zu allerletzt „Das schaffe ich
nicht!!!“
Ich
merke, wie fremd mir diese Welt inzwischen geworden ist. Sie tut mir leid, aber nur ein bisschen.
Ein
lustiges südamerikanisches Pärchen transportiert scheinbar seinen
ganzen Hausrat und versucht, diesen möglichst platzsparend zu
verstauen, was nicht ganz gelingt. Die Post würde die Kisten und
Kartons als Sperrgut klassifizieren. Ein fröhlicher Zugbegleiter
schlängelt sich an dem Aufbau vorbei und bemerkt: „Genug Gepäck
ham wir jedenfalls mit!“
Überhaupt
sind alle DB-Angestellten ausnehmend guter Laune und sehr
hilfsbereit. Ich frage mich, ob das irgendwie mit dem Streik
zusammenhängt. Ich hätte eher das Gegenteil erwartet, aber
womöglich ist es der Spaß an der Ausnahmesituation. So finden sich
hier in der ersten Klasse viele Leute, die wohl sonst zweiter Klasse
fahren. Eine echte Abwechslung zu den üblichen Anzug-männern mit
Smartphones und Laptops und wichtigen Mienen.
Gegen
Ende der Fahrt verteilt derselbe Zugbegleiter Kekse an alle und sagt
dazu verschmitzt: „Mit schönem Gruß von der Gewerkschaft!“
In
Berlin – wohin ich ursprünglich erst auf der Rückreise wollte –
habe ich eine Stunde Aufenthalt und überlege, die beiden Freunde zu erschrecken, bei denen ich in ein
paar Tagen Station mache. Ich könnte ganz empört tun, dass mich
keiner abholt, obwohl ich schon stundenlang am Bahnhof warte. Mein alberner Streich wird dadurch vereitelt, dass Michael gar nicht erst ans
Telefon geht. Ist auch besser so – sowas haben sie wirklich nicht
verdient. Bei ihnen zu Gast fühle ich mich, als wäre jeden Tag
Kindergeburtstag. Und zwar meiner.
Stattdessen
rase ich, weil es im Bahnhof kein Internetcafé gibt, ins nächste
Hotel, um endlich mein mitten in der Nacht gebuchtes Fernbusticket
auszudrucken. Wie blöd, dass man das nicht in der DB-Lounge
erledigen kann! Wie schön, dass jemand im DB-Reisezentrum mir diesen
Tipp gegeben hat! Und noch viel schöner, dass die jungen Leute, die
an der Hotelrezeption eigentlich vor mir dran wären, lebhaften
Anteil nehmen, mich selbstverständlich vorlassen und mir „Gute
Reise und einen tollen Urlaub!!“ hinterher rufen, als ich wieder
zum Bahnhof galoppiere. Nun gut: trabe.
Dann
ruckzuck ein Kaltgetränk und ein Brötchen erworben und runter zum
Bahnsteig gerollt, an dem heute der Zug nach Stralsund abfahren soll,
und zwar mit nur fünf Minuten Verspätung. Angeblich.
Noch
tut sich nichts, außer dass immer mehr Menschen auf den Bahnsteig
strömen. Da ertönt eine Ansage, die einen imaginären Zug und
dessen Fahrgäste auf demselben Bahnsteig willkommen
heißt und uns alle informiert, dass der Zug nach Stralsund schon
bereit stünde. Weit und breit kein Zug zu sehen, geschweige denn
zwei. Trotzdem - oder wohl deswegen - macht sich leichte Unruhe breit. Ich denke an den
Film „Monsieur Hulots Ferien“, der damit beginnt, dass auf einem
französischen Provinzbahnhof unverständliches Getröte aus den
Lautsprechern kommt, woraufhin ein Trüppchen geplagter Reisender die
Treppen mehrfach hoch und runter und wieder zurück rennt. In meiner
Gegenwart beruhigt sich langsam alles. Jetzt kommt auch wirklich der
Zug.
In
der Bahn von Berlin nach Stralsund treffe ich einige der Menschen aus
dem ersten Zug wieder – wir begrüßen uns wie alte Bekannte. Ich
suche mir einen Platz, überlege es mir dann wieder anders – bin
wohl doch ziemlich übernächtigt und nicht mehr Herrin aller
Geisteskräfte. Dann muss ich auch noch meinen Koffer unterbringen,
während sich hinter mir ein paar Frauen mit kleineren Kindern
einrichten.
Inzwischen
hat eine alte Dame meinen ursprünglichen Sitz erobert. Kurz nachdem
ich kapiert habe, dass ich diesen Platz gegen einen schlechteren
eingetauscht hatte. Für den Moment ratlos gucke ich hin und her.
Darauf die Frau: „Möchten Sie nicht lieber bei Ihren Kindern
sitzen? Sind das denn Ihre Kinder?“ „Nein, das sind nicht meine
Kinder. Sonst wäre ich wohl eine extrem Spätgebärende gewesen.“
„Ich dachte, das sind Ihre Kinder.“ „Wenn überhaupt, wären
sie meine Enkel. Sind aber weder noch.“ Ein Mann ruft dazwischen:
„Wer weiß!“ „Ich! Wenn es irgend jemand weiß, dann ich!“
Alles lacht. Die alte Dame macht sich später noch ausführlich
Sorgen um einen jungen Mann, falls der mal aufs Klo muss und nicht
raus kann, weil ich – er hat es mir angeboten – meinen Koffer zu
ihm gestellt habe. Der junge Mann sitzt mir schräg gegenüber, und
wir werfen uns augenrollende Blicke zu und schneiden alberne
Grimassen. Sofort tut es mir wieder leid, denn die alte Frau ist
einfach nur freundlich, wenn auch ziemlich redselig.
Zwei
kleine Jungs – Brüder – sind anfangs noch gedämpft von weitem
zu hören, wie sie sich unterhalten und irgendwas spielen. Plötzlich
ein empörter Schrei: „Du hast das kaputte-maaaaaacht! Mamaaaaaa –
der hat das kaputte-maaaaacht! Mamaaaaaaa!“ Sie
vertragen sich schnell wieder. Leider toben sie von nun an auf den
leeren Plätzen hinter mir herum, und jedes mal, wenn ich versuche,
böse nach hinten zu gucken, sitzen sie blitzschnell still und
grinsen mich mit funkelnden Augen an, als könnten sie kein
Wässerchen trüben. Gegen so viel Charme bin ich machtlos.
Ein
etwas älterer Junge mit Hipster-Hütchen auf dem Kopf hantiert mit
einem kleinen Gerät, seine Mutter reicht ihm einen Kopfhörer, und er
fragt: „Wie geht'n das jetzt? Muss ich einfach den Knopf
drücken?“ Bevor sie antworten kann, erklingt laut eine Stimme mit
den Worten: „Liebe Tindlein, am Anfang ist alles noch tsiemlis
swer, aber das wird schon!“ Beinah' rufe ich entzückt: „Mama
Wutz!“ Jawohl, sie ist es. Leider darf ich nicht weiter mithören,
weil der richtige Knopf für den Kopfhörer gefunden wird. Ich bin
betrübt. Das Urmeli ist mein Lieblings-Puppenkisten-Star.
Eine
Frau in meiner Nähe ruft per Handy eine Kollegin an. „Du,
Brigitte, morgen kommt ein Päckchen bei Euch an, da ist Blut drin.“
WAS!?
„Gib
das bitte sofort ins Labor weiter.“ Ach soooo.
Und
so vergeht recht gemütlich und unterhaltsam der zweite Teil der
Bahnreise.
In
Stralsund versuche ich herauszufinden, wo der Busbahnhof ist und ob
ich dahin laufen kann. Obwohl ich inzwischen ziemlich abgekämpft
bin. Eine freundliche Verkäuferin im kleinen Bahnhofsladen meint,
es würde sich wirklich nicht lohnen, für so eine kurze Strecke den
Bus zu nehmen oder womöglich gar ein Taxi. Es sei sozusagen gleich
um die Ecke. Ich marschiere also los. Von „gleich um die Ecke“
kann aber keine Rede sein. Außer man ist total leichtfüßig und
muss nicht noch einen immer schwerer werdenden Koffer hinter sich
herschleifen. Trotz Rollen fühle ich, wie mein Arm langsam
ausleiert. Damit nicht einer am Ende länger aussieht als der andere,
wechsele ich alle paar hundert Meter.
Endlich
ist der Busbahnhof in Sicht, oder doch nicht? Ich sehe hinter einer
Kurve einen unwirtlichen Parkplatz, von schmutzig-grauem Geröll bedeckt und durch
kleine, an den Rändern bröckelnde Parkinseln unterteilt,
aber keinerlei Hinweis auf eine Fernbushaltestelle. Dabei soll der
nach Rügen schon in zehn Minuten abfahren. Wenn ich nun am falschen
Ort warte! Katastrophe. Bei meinem nächtlichen Online-Check war das
Endergebnis, dass dies am heutigen Tag die einzige Verbindung zu
meinem Urlaubsort ist. Leicht panisch rufe ich die Hotline des
Busunternehmens an und beschreibe dem jungen Mann am anderen Ende, wo
ich warte. Er versichert mir, dass ich da genau richtig bin. Nach dem
Gespräch kommt plötzlich eine SMS mit der Bitte um etwas Geduld,
der Bus habe ein bisschen Verspätung. Das Bisschen entwickelt sich
zu einer guten halben Stunde, während der ich ein paar versprengte
Teenager bei ihren Paarungsritualen betrachte. Endlich biegt der
Fernbus um die Ecke. Ein gemütlich aussehender Fahrer krabbelt
heraus und zündet sich erstmal eine Zigarette an. Ich wanke zu ihm
hinüber. „Sagen Sie bloß, Sie fahren mich jetzt nach Rügen?“
Und er zwinkert mir freundlich zu und antwortet: „Jawoll! Und war
ich nicht brav? Hab' ich nicht eine SMS geschickt, so dass Sie
Bescheid wissen wegen der Verspätung?“ Das gestehe ich ihm gern
zu.
Und
dann fahren wir los. Und nach der Überquerung der Brücke zur Insel
erkenne ich nach mehr als zwölf Stunden Fahrt die Landschaft wieder,
die ich letztes Jahr so ins Herz geschlossen habe, und kann beinahe
schon das Meer spüren. Endlich!
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