Mittwoch, 27. August 2014

Zwischendurch mal ein Buchtipp

Radikale Erlaubnis - Das neueste Buch von Mike Hellwig (Therapeut und Autor)


Radikale Erlaubnis im Sinne von Mike Hellwig bedeutet: ALLE Gefühle anzuerkennen und zuzulassen. Für jemanden, der als Kind seelisch nur überleben konnte, indem er (oder sie) sich das Fühlen ganz abgewöhnte, klingt das gleichermaßen aufregend wie beängstigend.

Schon mit "Befreie das innere Kind" ergriff der Autor rückhaltlos Partei für das verlassene Kind und schilderte u.a., wie wir uns selbst bevatern und bemuttern können, wenn die eigentlich Zuständigen das nicht getan haben oder - noch schlimmer - genau das Gegenteil von guten Eltern gewesen sind.

Im aktuellen Buch zeigt Mike Hellwig, dass Heilung und damit Entwicklung zum kompletten Menschen nicht möglich sind, ohne dass unsere gesamte Gefühlspalette gefühlt und anerkannt wird. Aus der Gestalttherapie ist ein ähnlicher Ansatz bekannt - wir sollen die verschiedenen Anteile in uns anerkennen und integrieren. Meiner Erfahrung nach geht das recht formelhaft vor sich. Der Weg der radikalen Erlaubnis ist ein anderer - alles, was in uns ist, darf sein und will gesehen und gespürt werden. Dieses "alles" macht Hellwig uns anschaulich, indem er eindringliche Bilder für die Teile findet, aus denen es sich zusammensetzt.

So sind wir "Gastgeber" für diese ganz unterschiedlichen "Gäste", und - so könnte man sagen - haben diese ja selbst irgendwann mal eingeladen. Wie etwa die "Wächter", die eine sehr essentielle Funktion für uns hatten - sie haben uns gerettet, wenn die Bedrohung zu groß wurde. Nur haben wir sie leider nicht darüber informiert, dass ihr Job sich nun ändern muss, wo wir nicht mehr klein sind und andere Möglichkeiten haben, uns zu verteidigen. Sie brauchen unsere Anerkennung und unseren Dank, damit sie sich ebenfalls verändern und schließlich verabschieden können.

Ein wichtiger Unterschied seiner Therapie der radikalen Erlaubnis zur klassischen "Redekur" (nach Sigmund Freud) ist, dass ohne Fühlen gar nichts geht. Und Fühlen äussert sich im Körper. Der Körper - hier: der Bauch - weiß immer genau, was gerade los ist. Und im Körper fühlen wir auch die Veränderung - dies zeigt der Autor in Szenen aus seinen Therapiegruppen. Besonders für die "begabten Kinder", die ihr Leben lang versucht haben, alles zu verstehen, zu analysieren, damit es vielleicht nicht mehr so schmerzt, ist das eine heftige Herausforderung. Es braucht sehr viel Mut, den Schmerz auszuhalten bzw. sich in ihn hineinzubegeben. Mit einem Therapeuten an der Seite, der so offen auch über seine persönliche Geschichte erzählt und sich so vehement für das verlassene Kind in uns allen einsetzt - übrigens auch mit Strenge und durchaus männlicher Energie - können wir vielleicht diesen Mut aufbringen.
Der einzige Punkt, wo ich anderer Meinung bin, ist die vehemente Forderung nach der Auseinandersetzung mit den Eltern: sie sollen endlich anerkennen, was sie getan oder eben gelassen haben und dafür Verantwortung übernehmen. Wir, die verlassenen Kinder, sollen sie auf jeden Fall damit konfrontieren. Ich glaube (und habe es selbst erlebt), dass das noch schmerzlicher sein kann als diesen Konflikt nur mit therapeutischer Hilfe zu bearbeiten. Denn was ist, wenn wir vor den Eltern unseren ganzen Schmerz offenbaren und keinerlei Resonanz kommt? Ist das nicht noch schlimmer? Ich habe es so empfunden und akzeptiert, dass zumindest meine Eltern nicht aus bösem Willen schlechte Eltern waren, sondern aus Unvermögen. So konnte ich sie lassen und endlich anfangen, mich um mich selbst kümmern. Und das ist Herausforderung genug.

Dienstag, 22. Juli 2014

Newsflash

Liebe Gemeinde, das soziale Experiment geht weiter, denn nach Operation folgt Rehabilitation. Und das heißt: erheblich mehr Testpersonen und komplexere Versuchsanordnungen.

Ich werde getreulich und detailliert berichten, aber erst, wenn ich hier wieder 'raus bin. Der Anfang war vielversprechend: zu schlapp, um mich gegen Konventionen zu behaupten, habe ich mir gleich am ersten Tag unter mehreren Bewerbern einen Kurschatten erwählt. Ob das zur Heilung beiträgt, bleibt allerdings abzuwarten.

Ansonsten bin ich dankbar für zwei Rückzugsorte: mein frisch renoviertes Zimmer und die heimelige Stadtbücherei, aus der ich Euch gerade schreibe.

Stay tuned for more!

Dienstag, 8. Juli 2014

Menschen - Tore - Infusionen

"In meinem ersten Schreiben teilte ich Ihnen bereits mit, dass ich nach einem über 10-jährigen Afrika-Aufenthalt hier in Kaufbeuren in den Städtischen Kliniken eine Mini-TV-Radio-Sendeanlage ohne meine Erlaubnis in meinen Körper einoperiert bekommen habe und seitdem von Millionen Menschen in Europa empfangen werde." (Süddeutsche Zeitung, aus einem Buch mit Briefen an die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender) Dies nur als Warnung, was einem im Krankenhaus alles passieren kann!

Ganz so dramatisch war es bei mir nicht.

Ein Klinikaufenthalt in einem Mehrbettzimmer ist ja immer auch ein unfreiwilliges soziales Experiment. Mich hatte es ausgerechnet in der Woche erwischt, in der das Viertelfinale auf dem Plan stand. Das wurde mir erst bewusst, als ich nach meiner Bandscheiben-Operation wieder einigermaßen bei mir war und mich ein bisschen eingewöhnt hatte. Kein Rudelgucken. Schon gar nicht im Freien.

Das Zimmer war hübsch eingerichtet, und zu jedem Bett gehörte ein kleines TV-Gerät mit Kopfhörer. Mir genau gegenüber lag Frau B. (Anfang Achtzig). Wir konnten uns über die Bett-Fußenden hinweg anschauen und unterhalten. Oder Grimassen schneiden, was wir manchmal auch taten. Zum Beispiel als Kommentar zu Unterhaltungen von anderen Anwesenden.

Neben mir lag Frau D. (Mitte Siebzig), die breites Frankforderisch sprach, und das laut und gern. Frau B. und ich mochten Frau D., und meist ging die Zeit mit Plaudereien zu Dritt ganz gut herum.

Am Tag des Spiels Frankreich-Deutschland lag eine besondere Stimmung über der Station. Als würden allenthalben Vorbereitungen verschiedenster Art getroffen. Ich war zunächst unentschlossen, weil ich mir schlecht vorstellen konnte, als Fan quasi mit angezogener Handbremse und gemurmelten Anfeuerungen so ein wichtiges Spiel zu verfolgen.

Je näher der Spielbeginn rückte, desto klarer wurde mir, dass ich gar keine andere Wahl hatte. Frau B. teilte mit, sie würde nicht gucken. Sie habe überhaupt nichts übrig für Fußball und verstehe ja auch gar nichts davon.

Frau D.: "Isch guck auch net. Fußball is net so meins."

Ich bat um die Erlaubnis, ein bisschen herumschreien zu dürfen - die wurde großzügig gewährt.

Also frühzeitig eingeschaltet, falls es technische Probleme geben sollte. Bis zu diesem Abend - zwei Tage nach der OP - hatte ich nämlich noch keinerlei Verlangen nach dem Fernsehprogramm gehabt.

Kurz vor Beginn des Spiels höre ich von Frau B.: "Auf geht's." Ich: "?" Frau B.: "Ach, ich guck jetzt doch mit." Wie schön! Auch aus den Nebenzimmern - die meisten Türen stehen wegen der großen Hitze offen - kommt verhaltener Jubel nach dem Tor.

Das Abendessen wird serviert. Die Schwester zu Frau D.: "Was? KEIN Fußball?" Frau D.: "Ach naa, des indressiert misch net." Schwester: "Wir führen mit Eins zu Null - nur damit Sie informiert sind." Frau D.: "Dankeschön." Frau D. ist immer freundlich.

Dann herrscht eine Zeit lang relative Ruhe, unterbrochen nur von Äußerungen wie "Nein!", "Ach!" oder "So ein Mist." Nach einer Weile bemerke ich Signale von Frau B. herüber zu mir. Ich nehme kurz die Kopfhörer ab. Frau B. sagt: "Wir sind grad nicht so gut, oder?" Ich: "Naja - doch, aber wir sind mit Verteidigung beschäftigt, weil die Franzosen ganz schön aufgedreht haben."

Ein paar Sekunden Stille. Dann Frau B. - zur Erinnerung: Fußball lässt sie völlig kalt - mit erhobener Stimme: "Jetzt macht endlich mal! So wird das doch nie was!" Ich grinse zu ihr 'rüber. Sie: "Ist doch wahr."

Von nebenan ertönt eine Stimme: "Los Jungs, sonst flutscht mir gleich noch 'ne Bandscheibe raus."

Frau B. und ich amüsieren uns königlich darüber, dass wir hier faul in unseren Betten liegen, mit kalten Getränken in Griffweite und einem tollen Panoramablick auf die Stadt, und den Männern, die in Rios Mittagshitze kämpfen, empfehlen, sich doch bitte mal ein BISSCHEN anzustrengen.

Später trifft man sich mit den Nachbarzimmerbewohnern auf dem Gang am Wasserspender und kommentiert noch ein bisschen das Spiel, um dann aus dem Fenster den Autokorso zu betrachten.

Aber nun - verehrte Leserschaft - schalten wir nach Belo Horizonte zum HALBFINAAAALE!







Freitag, 20. Juni 2014

Geschenke oder - das Universum liefert?

Seit es das Versandhaus Quelle nicht mehr gibt, bestellen immer mehr Menschen Dinge ihres täglichen oder speziellen Bedarfs beim Universum.

Parkplätze, neue Möbel, neue Jobs oder gar neue Partner soll es liefern. Wenn die Lieferung ausbleibt oder etwas Falsches geschickt wird, liegt das - im Unterschied zu Quelle - nicht an Lieferfehlern, sondern an der unkorrekten oder unvollständigen Bestellung. Weil die Kunden da offenbar vieles falsch machen können, gibt es kostenpflichtige Anleitungen. Wenn's dann immer noch nicht klappt, darf man sich nicht etwa beschweren, sondern soll wahrscheinlich in sich gehen und einsehen, dass es besser so ist. Das ist meine Interpretation, denn gelesen habe ich keines der "Universum"-Bestellbücher. Das Universum hat jedenfalls immer Recht und kann gar nichts falsch machen. Das machte diese Idee zu einem risikolosen Geschäft für die Autorin der Bücher, denn verantwortlich für Fehler ist immer der Anwender. (Ähnlich wie bei Microsoft.)

Mit dem Bedeutungsverlust der klassischen Religionen scheint magisches Denken immer mehr um sich zu greifen, und es macht auch mir manchmal Spaß, überraschende Begebenheiten oder Glücksfälle als kleine Wunder zu deuten. Ich freue mich über ein gutes Horoskop, weil es mich beschwingt in den Tag starten lässt. Das hat etwas Spielerisches.  

Aber es gibt eine Grenze.

Vor langer Zeit habe ich alles von Louise Hay gelesen, was mir in die Finger kam. Aus ihren Büchern strömt eine Menge Wärme, ja sogar Liebe. Man fühlt sich verstanden und vermutet eine verwandte Seele, die aber im Gegensatz zum Leser eine Lösung gefunden hat. Louise Hays Leben war lange Zeit unfassbar schwer, und sie hat sich schließlich selbst gerettet - dadurch wirkt sie glaubwürdig und authentisch. Ihr "Zaubermittel" waren und sind Affirmationen und Visualisierungen, wogegen eigentlich nichts einzuwenden ist.

Wenn sie erfolgreich sind, kommt für Lehrer wie Hay irgendwann der Zeitpunkt, wo aus dem ursprünglich individuellen Erleben und Weitergeben ihrer Erkenntnisse ein wirtschaftliches Unternehmen entstehen könnte und es meist auch tut. Auch dagegen ist nichts zu sagen - schließlich können auch weise und / oder spirituelle Menschen zumindest in der westlichen Welt nicht von Luft und Liebe oder freiwilligen Gaben ihrer Schüler leben. Es gibt zahlreiche Beispiele dafür, und das sind beileibe keine Scharlatane - ich denke an Eckhardt Tolle, Geneen Roth (die ich persönlich wunderbar finde und für völlig integer halte), Brené Brown und andere.

Meine Bewunderung für Louise Hay erhielt einen heftigen Dämpfer, als ich bei YouTube ein Gespräch zwischen ihr und einer anderen Self Help-Vermarkterin ansah. Über die typisch amerikanischen enthusiastischen bis hysterischen Aspekte solcher Auftritte sehe ich meist tolerant hinweg - aber als Ms. Hay von ihrem Rolls Royce schwärmte und die andere Dame ausrief: "And to think that you manifested all of that yourself! Just showing that there is no limit to what you can achieve" und Ms. Hay ihr begeistert zustimmte, entfuhr mir eine drastische Bemerkung, die ich hier nicht wiederholen möchte.

Das magische Denken, nach dem ich alles, was in meinem Leben passiert, selbst verursacht habe - zum Beispiel durch "falsches Denken" oder meinetwegen auch "falsche Bestellungen", ist letztendlich zutiefst inhuman. Wenn Du allen Ernstes glaubst, dass Du allein durch richtige oder falsche Gedanken etwas herbeiführen oder verhindern kannst, wie deutest Du dann etwa eine Naturkatastrophe oder einen Flugzeugabsturz? Haben in diesen Fällen einige Hundert oder einige Tausend Menschen alle an etwas Falsches geglaubt oder falsch gelebt, so dass ihnen diese Unglücksfälle zustoßen mussten? Mitgefühl und Solidarität wären unangebracht, denn alle Opfer hätten ihr Schicksal selbst herbeigeführt und daher wäre alles so, wie es wohl sein sollte. Während einer Diskussion über dieses Thema habe ich mal eine Bekannte gefragt, ob sie denn wirklich meine, dass meine Schwester selbst Schuld sei an ihrer Krebserkrankung und ihrem frühen Tod, und diese Bekannte bejahte das. Nicht ohne eine Weile herumzudrucksen, aber letzten Endes war das ihre Überzeugung. 

Vor einiger Zeit war dieser Glaube an Zusammenhänge zwischen Krebserkrankungen und psychischer Verfassung weit verbreitet, und so abwegig erschien die Vorstellung gar nicht. Nach dem Motto: wenn Du immer alles in Dich hineinfrisst, kriegst Du irgendwann Magenkrebs! Längst haben seriöse Studien das klar widerlegt. Die Erfahrung lehrt: Argumente ändern leider selten etwas an irrationalen Überzeugungen. Liebstes "Argument": Das glaube ich einfach nicht! 

Wenn also jemand kurz vor der Fahrt in die Stadt beim Universum einen Parkplatz bestellt und prompt einen findet, liegt das wohl eher an erhöhter Aufmerksamkeit für freie Parkplätze, weil der Fahrer sich vorher positiv darauf eingestimmt hatte.

Ich bin nämlich überzeugt, dass wir dem Universum herzlich egal sind. Ich glaube auch nicht an einen Ausgleich in dem Sinne, dass Gemeinheit bestraft und das Gute belohnt wird. Ein Blick in die Tageszeitung widerlegt das sofort. Woran ich inzwischen allerdings glaube, ist das Gesetz der Resonanz - wenn man dem Ding denn einen Namen geben will. 

Trotz gelegentlicher Rückstürze in den Depri-Sumpf oder zeitweilig schwierige Lebensumstände bin ich im Grunde meines Herzens Optimistin (zu meiner eigenen Überraschung). Vor allem bemühe ich mich, nicht Andere - und sei es nur durch schlechte Laune - für meine Probleme zu bestrafen. (Für die Zusendung von Heiligenscheinen: Adresse auf Anfrage)

Mit Resonanz meine ich: wenn ich durch die Welt laufe mit der Einstellung, dass diese mir etwas schuldet, weil ich bisher verdammt viel zu kurz gekommen bin, wird mir wohl eher nichts Gutes begegnen. Empirische Forschungen mit mir selbst als Versuchsperson während einiger übler Jahre belegen das. Nicht repräsentativ, gebe ich zu.

Nachdem ich das - durchaus auf die harte Tour - gelernt habe und mich  seitdem um mehr Offenheit bemühe für alles, was mir so begegnet, sind mir tatsächlich eine Menge kleine und große Wunder geschehen.

Und sehr oft in Notlagen: Als mir meine alte Wohnung wegen Eigenbedarfs gekündigt wurde und ich große Angst hatte, aus meinem geliebten Viertel wegziehen zu müssen, kaufte mein damaliger Chef kurzerhand eine Wohnung und vermietete sie an mich. Und wo fand ich diese Wohnung? Ein Stockwerk höher schräg über meiner alten. Eine gute Fee hatte ich mir immer ganz anders vorgestellt, und nun kam sie mir als großer kräftiger Bauingenieur verkleidet zu Hilfe. Nach menschlichem Ermessen muss ich nie mehr Angst haben, mein Zuhause zu verlieren. Der Ingenieur ist schon lange nicht mehr mein Chef, sondern ein verlässlicher Freund und wunderbarer Vermieter.

Und nun, wo ich meinen Job verloren und eine OP vor mir habe und von Krankengeld unter dem Hartz IV-Satz lebe, kriege ich wieder lauter Geschenke: Letztens überlegte ich, dass sich ein Stehtisch gut in meiner Wohnküche machen würde, und dazu gehören natürlich zwei passende Stühle. Dann brach ich zu einem Spaziergang auf, bog um die Straßenecke, und da stand der erste Stuhl, wartete resigniert auf den Sperrmüll und fand stattdessen ein neues Zuhause.

Für meine Minidiele will ich mir einen schmalen Tisch bauen, der genau in eine Nische passen muss. Gestern - komischerweise gehe ich scheinbar immer vor Sperrmüllterminen spazieren - warteten vier nagelneue Tischbeine inklusive Befestigungsmaterial vor einem Nachbarhaus. Dazu gab es einen original verpackten schicken Couchtisch und noch ein paar andere Kleinigkeiten. Außerdem eine dänische Flagge und dänische Bücher. Danke also von Herzen an die geschmackssichere dänische Familie, die vermutlich in die Heimat zurückgeht!

Und danke nicht zuletzt an freundliche junge Männer, an die ich über Facebook ein Regal oder andere aussortierte Dinge verschenke, und die sich mit Heimwerkerarbeit revanchieren, und an liebe Menschen, die mich mit einem Buchgeschenk überraschen (you know who you are).

Nochmal zu meiner Resonanztheorie: in Prä-Facebook-Zeiten gab es diverse Verschenk-Webseiten, und die habe ich damals auch genutzt. Häufig sind mir dort Leute begegnet, die mit der oben beschriebenen Anspruchshaltung durch's Leben liefen. Jemand meldete sich also auf ein Angebot, sagen wir mal: einen gut erhaltenen Wintermantel, versäumte dann den vereinbarten Abholtermin und fragte stattdessen an, ob ich das Teil per Post schicken könne. Natürlich auf meine Kosten. Wenn ich das ablehnte, wurde ich auf der Seite als gemein und geizig beschimpft. In dieser Hinsicht funktioniert die soziale Kontrolle auf Facebook bestens. Mir ist allerdings hier nie so jemand begegnet, so dass das Verschenken einfach Freude macht. Außerdem ist es - zumindest symbolisch - ein Zeichen gegen die Wegwerfgesellschaft.

Wobei mir einfällt: ich muss noch die nette junge Frau anrufen, die mir ein kleines Regal geschenkt hat und geduldig ein paar Tage aufhebt, bis ich es abhole.

Bis bald in diesem Theater.




















Freitag, 13. Juni 2014

Misfit

Seit ein paar Tagen ist ihre alte Bekannte, die Verzweiflung, zurück. Erst hat sie nur leise auf sich aufmerksam gemacht. Aber plötzlich kommt sie in mächtigen Wellen, die sie überschwemmen, durchschütteln und auf den  Grund stoßen, bis ihre Haut aufschrammt und die Tränen fließen. Sie wünscht sich wohl Gesellschaft, aber doch nicht solche.

Im Geist hört sie die Floskeln von früheren "Freundinnen": Ist doch gut, wenn Du weinen kannst! Danach geht's Dir besser. Es geht aber nicht besser. Wie kann man soviel Flüssigkeit produzieren? Manchmal geht das stundenlang, und niemand auf der Welt weiß etwas davon. Das ist vielleicht das Schlimmste. Sie muss an die Parabel von dem Baum denken, der unbemerkt im Wald umstürzt. Gibt es den Baum dann überhaupt? Gibt es SIE? Sie lebt ein unbezeugtes Leben.

Gestern hat sie gegoogelt, ob es im Internet Rat gibt für Menschen, die ohne Beziehungen oder Freunde leben müssen. Sie hat sich dafür geschämt, aber doch auf Antwort gehofft. So wie früher, als jedes dritte Buch in ihrem Regal ein Selbsthilfe-Ratgeber war, in dem es um Depression, Einsamkeit oder Esssucht ging. Oder alles auf einmal. Bücher waren immer ihre Gefährten, und schon als Kind hatte sie sich mit ihnen in andere Leben und Welten geträumt. Später hat sie dann geglaubt, wenn sie nur das richtige Buch fände, in dem der eine, der richtige Satz stand, wäre sie gerettet.

Wenn sie Alkoholikerin wäre, hätte sie gerade einen Rückfall. Sich besaufen an schlimmen Gedanken. Sich ihnen wehrlos ausgeliefert fühlen - oder sich ihnen hingeben? - und sie für die absolute Wahrheit halten. Das hat etwas von einem finsteren Rausch.

Zum Rausch gehört auch die Überzeugung, dass niemand sonst ein so schlimmes Schicksal erleiden muss. Was hat sie Böses getan? Wofür wird sie bestraft? Das hat sie sich schon als kleines Mädchen gefragt.


Sie passt in keine Schublade. Für Künstler gilt das als Kompliment und durchaus erstrebenswert. Im Leben von durchschnittlichen Menschen ist es nicht so toll, in keine Schublade zu passen. Oder als Töpfchen kein Deckelchen zu finden. Oder von keinem Töpfchen gefunden zu werden und als Deckelchen sinnlos in der Welt herum zu scheppern.

Letztens wurde zur Teilnahme an einem Gewinnspiel animiert: "Als Hauptgewinner dürfen Sie zwanzig ihrer besten Freunde zu einer privaten Filmvorführung einladen." Zwanzig! Sie hat nicht mal EINE richtige Freundin. Und als Frau ohne beste Freundin kommt man in der Werbung, im Film und überhaupt in der Wahrnehmung unserer Gesellschaft gar nicht vor. Was für eine Schreckschraube oder Langweilerin muss eine sein, die keine Freundin hat? Wenn eine schon keinen Mann abkriegt, sind da zum Trost immer noch die Freundinnen. Eine wie sie, die weder das eine noch das andere vorweisen kann und noch nicht mal eine Karriere als akzeptable Entschuldigung - verdient die überhaupt einen Platz auf der Welt?

Sie sucht nach einem Ausweg, aber das schreckliche Gedankenkarussell dreht und dreht sich, bis ihr Geist in alle Richtungen davonfliegt. Die alten Überzeugungen stehen immer parat für solche Momente - sie warten ja nur auf ihren Einsatz: Wenn schon Deine Eltern Dich nicht lieben konnten, wie sollen das dann wildfremde Menschen tun? Es bedeutet, dass nichts Liebenswertes an Dir ist. Das ist doch nur logisch.

Deine Mutter hat Recht behalten mit ihren Prophezeiungen: Du endest einsam und allein, weil Du einfach nicht normal bist. Du störst überall. Sei endlich still und lass' uns in Ruhe. Sieh' Dich nur mal an - wenn Du wenigstens hübsch wärst!

Eine Bekannte sagte letztens: Es ist immer so lustig mit Dir. Sie hört: Du musst immer lustig sein.

Dabei ist ihr Lustigsein ja keine Lüge - nur vom Traurigsein darf und will niemand wissen. Sie surft ein bisschen weiter im Internet. Und findet eine Geschichte. Sie fängt - skeptisch - an zu lesen. Verschwommenen Blicks, weil die Tränen immer noch fließen. Sie schmecken nicht mehr ganz so bitter.

Das Märchen von der traurigen Traurigkeit

Sie fühlt sich seltsam getröstet. Kleine Blitze von Selbsterkenntnis und Humor leuchten durch die Tränen. Die Worte schaffen ein bisschen Ruhe, und langsam kommt sie wieder bei sich an.









Donnerstag, 5. Juni 2014

Sing When You're Happy!

Ich habe mal gelernt, dass man sich möglichst jeden Tag einmal so richtig blamieren soll. So wird trotz aller Bemühungen um Erleuchtung das Abheben vermieden. Oder anders gesagt: Hochmut kommt vor dem Fall.

Jedenfalls habe ich diesen Rat heute beispielhaft befolgt. Und das kam so:

Eigentlich wollte ich Euch / Ihnen, hochverehrte Leserschaft, eine besondere Freude machen und mal etwas aus meinem Gesangsrepertoire zum Besten geben. Ich komme aus einer recht musikalischen Familie, wurde zum Schulchor zwangsverpflichtet und habe immer schon gern gesungen. Außer zunächst im Schulchor, weil ich eine Todesangst vor unserem Musiklehrer und vor der Bühne hatte - und zwar in dieser Reihenfolge. Der Musiklehrer hatte etwas von einem Feldmarschall an sich. Und dass sich hinter meinem Lampenfieber eine heimliche Rampensau verbarg, habe ich erst viel später kapiert.  

Zurück zu meinem von Anfang an zum Scheitern verurteilten Vorhaben. Was ich natürlich nicht ahnte. Ich fing genauso an wie mit diesem Blog: naiv drauf los!

Ich habe also eine kostenlose Recording-App downgeloaded und ein Weilchen meine Lieblingslieder geübt. Wobei die Leser, die ein bisschen Ahnung haben, sich bestimmt jetzt schon ins Fäustchen lachen. Denn natürlich kann man als Sängerin gar nicht alleine üben. Wie hat meine Gesangslehrerin damals gesagt: Wie willst Du das denn machen ohne Klavier? Willst Du zum Himmel rufen: Oh Herr, schick' mir ein dreifach gestrichenes F?  

Sie wollte mich dazu bringen, mir ein Keyboard zu kaufen und wenigstens ein bisschen Klavier zu lernen. Aber da ich bereits am Notenlesen verzweifelt bin, kann man sich vorstellen, wie die Geschichte ausging. Ein Keyboard gab's damals günstig beim Quelle-Versand (da seht Ihr, wie lange das schon zurückliegt). Als das Paket kam, habe ich das Instrument in einer Mischung aus Vorfreude und Ehrfurcht ausgepackt. Dann habe mich beim Anblick der vielen Tasten und Knöpfe so erschreckt, dass ich es sofort wieder eingepackt und zurück geschickt habe. Was das Notenlesen angeht, war ich schon in der Schule immer in höchster Not, wenn im Musikunterricht jede von uns der Reihe nach geprüft wurde. Ich war oft schier der Ohnmacht nahe und wurde manchmal nur durch das Ende der Stunde gerettet. Beim Singen konnte ich mich ganz gut durchmogeln, weil ich eine Melodie nachsingen kann, sobald ich sie einmal gehört habe. Und im Chor vom Blatt singen geht auch einigermaßen, wenn man nicht gerade Solo singen muss. Das musste ich glücklicherweise immer erst, wenn ich die Nummer schon "drauf hatte".

Meine wunderbare Gesangslehrerin - eine überzeugte Vertreterin der positiven Pädagogik - hat mich einfach trotz totaler Disziplinlosigkeit drei Jahre ertragen. In dieser Zeit war mein Leben insgesamt eher ein apathisches Dahin-Wurschteln, und das Singen gab mir Halt und Freude und Erfolgserlebnisse. Leider konnte ich mir den Unterricht irgendwann nicht mehr leisten. Aber für die drei Jahre bin ich heute noch dankbar.

Das Tolle an Gesangsunterricht ist: Wenn Du ohne jede Vorahnung anfängst, machst Du extrem schnelle Fortschritte. Denn sobald man auch nur ein bisschen die richtige Technik anwendet, singt man sehr viel anders und sehr viel besser als vorher. Und die Technik vergisst man auch nicht. Immerhin. Aber wenn man aufhört zu üben, dann macht sich das leider ebenso schnell bemerkbar. Das habe ich schon öfter feststellen müssen. Und heute ganz besonders!

Ich also die App installiert und einen kleinen Test gemacht. Schon nach 10 Sekunden kam ich mir absolut albern vor - ich hatte ja nicht mal ein Playback als Begleitung. A capella singen ist nicht Jedermanns Sache! Meine offenbar auch nicht. Nach dem nächsten Versuch mit den ersten paar Takten von Friedrich Hollaenders "Wenn ich mir was wünschen dürfte" nahm ich meinen Mut zusammen und hörte mir die Aufnahme an.  Was ich hörte?

Zuerst ein seltsames Geraschel und Gekruschpel. Und dann ein zartes dünnes Stimmchen, dass erbärmlich zittrig das Lied ins Mikro hauchte. Ich konnte gar nicht bis zum Schluss hören, so sehr musste ich lachen. Die Melodie und der Rhythmus allerdings - nahezu perfekt. Natürlich kann nur die blöde Aufnahme-App daran Schuld sein! Nicht.

Ich habe mich gründlich blamiert, wenn auch nur vor mir selbst. Als Perfektionistin, die ich bin, ist das schlimm genug. Mal sehen, was mir morgen einfällt.

Ich bastele gerade an einem Wunschzettel - deswegen ging mir auch dieses Lied im Kopf herum. Jetzt kommt auf den Zettel auch noch ein netter Pianist, dem eine Sängerin fehlt. Und der Jazz und Chansons und alles Mögliche mag, was eine Melodie hat.

Und bis dahin: Enjoy!

Marlene singt Hollaender

Sonntag, 1. Juni 2014

Vater, die Zweite

Zweiter Weihnachtstag. Ich sitze mit meinem Vater beim Nachmittagskaffee. Wir haben uns beschenkt und ehrlich gefreut. Ich schaue in sein immer noch junges, freundliches und irgendwie wehrloses Gesicht. Es hat etwas von dem pfiffigen, aber auch ängstlichen kleinen Jungen behalten, der er wohl einmal war.

Auch schon wieder lange her, dass ich diesen Eintrag begonnen habe. Mitte März haben wir Vaters 87. Geburtstag gefeiert, und es war ein fröhlicher und schöner Nachmittag zu dritt: am Kaffeetisch saßen mein Vater - den ich in Gedanken zu meiner eigenen Verblüffung inzwischen "Papa" nenne -  der Lebensgefährte meiner verstorbenen Schwester und ich. Allein diese Konstellation hätte mich noch vor kurzem mit schlimmen Vorahnungen erfüllt. Zumindest hätte ich mich schwer zusammenreißen müssen, um nicht die gute Stimmung zu verderben. Die gute Stimmung, die natürlich nur geheuchelt sein konnte und von jedem vernünftigen und klugen Menschen - also mir! - nur Verachtung verdient hatte.

Wie sich alles so zum Guten verändert hat, kommt einem kleinen Wunder gleich.

Der Weihnachtstag vom Anfang ist ein schönes Beispiel dafür: Meinen Vater und mich verbindet sehr viel, die Liebe zur Musik unter anderem. Natürlich höre ich ganz andere Musik als er, und an Weihnachten kam es zu einem denkwürdigen Ereignis. Mein Vater hatte mir erzählt, dass er eine alte LP mit den Fischer-Chören ausgegraben hatte. Falls jemand die nicht mehr kennt: Gotthilf Fischer hatte die Idee, alle möglichen Menschen zum Singen zu bringen. Auf nicht sehr hohem Niveau, aber mit viel Spaß und großem Erfolg. In meiner Kindheit waren die Chöre in immer neuer Konstellation in jeder großen Fernsehshow zu hören und zu sehen. Und gesungen wurde so ziemlich alles. Auf der erwähnten LP waren es Evergreens aus der Schlagerwelt. Evergreens - sowas sagt heute auch niemand mehr. Mein Vater jedenfalls hatte diese Platte als Gute-Laune-Medizin entdeckt und legte sie auf, wenn ihm ein bisschen "heulerig" zumute war. Bei klassischer und religiöser Musik kommen  ihm sehr schnell die Tränen, und manchmal schämt er sich dafür. Auch das haben wir gemeinsam.

An Weihnachten saßen wir zunächst im Esszimmer - diesem unglaublich spießig eingerichteten Zimmer, auf das meine Mutter so stolz gewesen war. Das Esszimmer war ein lang gehegter Wunsch und konnte erst eingerichtet werden, als meine Großeltern nicht mehr lebten und meine Schwester und ich von zu Hause weggezogen waren. Vorher wurde aus Platzmangel im Wohnzimmer gegessen, und zwar an einem dieser Couchtische, die sich hoch und 'runter kurbeln ließen. Das fand ich als Kind ganz normal und konnte mir gar nichts anderes vorstellen. Genau wie meine damals beste Freundin es sicher normal fand, eine Haushälterin und Köchin zu haben, ein riesiges eigenes Zimmer und natürlich ein Esszimmer. Für meine Mutter gehörte das Esszimmer zu ihrem Traum von einem besseren Leben.

Dieses Zimmer gibt es immer noch, inklusive Zinntellern an der Wand und mit verschlissenem Samt bezogener Eckbank. Als wir da so entspannt und gemütlich saßen, fragte mein Vater fast schüchtern, ob ich wohl noch Zeit hätte, mit ihm ein bisschen Fischer-Chöre zu hören. Na klar, sagte ich. Und dachte: Hammer! (In Gedanken drücke ich mich gern mal pubertär aus.) 

Es ist noch nicht so lange her, dass ich höchstens eine Stunde bei meinem Vater ausgehalten habe und die Vorstellung, gemeinsam "seine" Musik zu hören, als abwegiges, geradezu unverschämtes Ansinnen weit von mir gewiesen hätte. Und trotzdem hätte ich Schuldgefühle gehabt. Denn mein Vater hat meine Verachtung und meine Vorwürfe sicher immer gespürt. Seit ich die abgelegt habe, und zwar ehrlichen Herzens und mit großer Erleichterung, ist alles anders zwischen uns. Wie meine innere Veränderung eigentlich vor sich gegangen ist, kann ich nicht genau sagen. Es war kein Entschluss, sondern eher eine langsame Entwicklung, trotzdem fühlte ich mich, als habe ich plötzlich einen Schalter umgelegt, und mir sei ein Licht aufgegangen. 

Für die Einsicht, dass ich niemanden ändern kann, habe ich sehr lange gebraucht. Und gegen die Tatsache, dass das Einzige, was sich wirklich ändern lässt, meine eigene Sicht der Dinge ist, habe ich mich ebenso lange gewehrt. Rückfälle kommen immer wieder vor. Wenn mich die Erkenntnis verlässt, dass diese Lehren die Belohnung in sich selbst tragen, brauche ich eigentlich nur an mein heutiges Verhältnis zu meinem Vater denken. Sobald ich mich anders verhielt, tat er das auch - wie von selbst. Plötzlich wurde es möglich, über Gefühle zu reden. Ich bekomme Einiges von dem, was mir als Kind so gefehlt hat, und viele Macken meines Vaters, die mich oft zum Wahnsinn getrieben haben, sind offenbar einfach verschwunden. Ich nehme an, mit den Macken und dummen Sprüchen hat er sich geschützt vor meinen ausgesprochenen, öfter noch unausgesprochenen Vorwürfen. Das ist nun nicht mehr nötig. 

Und so begab es sich (Weihnachten!), dass mein Vater und ich zusammen die ganze Platte anhörten, uns dabei an den Händen hielten und jedes Lied inbrünstig mitsangen. Das war mein persönliches Weihnachtswunder. (Das zweite Wunder war, dass ich alle, aber auch ALLE Texte immer noch auswendig konnte!)

Alles hat natürlich auch seinen Preis. Ich war vor dieser Veränderung oft so verzweifelt und dabei so erbarmungslos, dass mir mehr als einmal durch den Kopf schoss: Hoffentlich stirbt er bald, dann ist dieser ganze Krampf endlich vorbei. Es tut mir heute weh, das hinzuschreiben. Nüchtern betrachtet, ist es sowieso Unsinn, und wie froh bin ich heute, dass ich das niemals in Worte gefasst habe. 

Heute spreche ich während eines Monats öfter mit meinem Vater als früher in Jahren. Ich freue mich, wenn es ihm gut geht; ich habe großen Respekt davor, wie er mit seinem Leben zurecht kommt. Ich mag seinen Humor und sein Interesse an so vielen Dingen, über die wir uns austauschen können. Und ich kann mir selbst endlich eingestehen, ihn zu mögen und zu lieben. Ich kann es ihm sagen und mich sogar darüber freuen, wenn er mich sein Töchterchen nennt. 

Was ich mit dem Preis meine? Ich werde ihn sehr vermissen, wenn er diese Welt verlässt. Das ist neu für mich. 

Aber wie ein kluger Mensch gesagt hat: 'Tis better to have loved and lost than never to have loved at all. 
(Alfred Lord Tennyson)





Montag, 26. Mai 2014

Ohne Titel


Unsortierte Wäsche,
benutztes Geschirr,
flüchtig aufgehäufte Papiere

sie alle warten
auf
meine ordnende Hand
die

unschlüssig schlenkernd

lieber zupacken würde
Teig kneten
oder Finger schnippen
oder
Dir übers Haar streichen.

Sonntag, 18. Mai 2014

Practice What You Preach

Wann immer sich jemand im Freundes- und Bekanntenkreis mit Ess- und/oder Gewichtsproblemen herumschlägt, verweist die ach-so-kluge Autorin dieses Blogs auf Geneen Roth

Seit ich mit ungefähr Ende zwanzig ihre Bücher entdeckt und zum ersten Mal "When Food Is Love" gelesen habe, bin ich ihr treu als Leserin und Schülerin. Ich habe ja schon als Kind die tröstende und beruhigende Wirkung von Honigbroten und Nussteilchen entdeckt (bei mir musste es immer süß und fettig sein, und auch das hat seine Bedeutung)  und sie als Mittel eingesetzt, um die "schlimmen" Gefühle nicht zu fühlen. Beim Lesen von Geneens Büchern (ich "kenne" sie schon so lang, dass ich sie heimlich duze) fühlte ich mich zum ersten Mal verstanden in meiner Verrücktheit mit dem Essen. Damals war ich übrigens nicht besonders dick, aber ich weiß inzwischen, dass das rein gar nichts bedeutet. Man sieht jemandem sein Unglück nicht immer an. Was man mir aber wohl angesehen hat, waren mein Selbsthass und die Überzeugung, hässlich und abstoßend zu sein. Ich wurde damals oft auf der Straße angepöbelt und beschimpft  - "fette Sau" war noch die harmloseste Anmache. Ich war das geborene Opfer, weil ich meinen Angreifern insgeheim Recht gab. 

Wenn ich heute daran denke, was ich mir alles angehört habe - auch von vermeintlichen Freundinnen - werde ich traurig und wütend zugleich. Ich möchte die Karin von damals wachrütteln und sie gleichzeitig in den Arm nehmen. Eine Kollegin wollte mich einmal mit einem Freund ihres Mannes verkuppeln, der sei vielleicht der Richtige für mich, weil erblindet. Da müsse ich keine Angst haben, weil er gar nicht erst merken würde, wie hässlich ich sei. Ich weiß nicht mehr, was ich geantwortet habe. Aber ich fürchte, ich war sogar dankbar, weil jemand sich um mich "sorgte". 

Weit verbreitet ist das Klischee, dass Dicke robust und stark seien. Genau das Gegenteil ist der Fall - warum müsste man sich sonst ein Schutzpolster anfressen? Natürlich gibt es die lustigen Dicken - lustig sind sie aus Notwehr geworden. Besonders die Frauen. Frauen, die dem Schönheitsideal entsprechen, müssen nicht auch noch witzig oder schlagfertig oder zwanghaft hilfsbereit sein. Sie können, aber sie müssen nicht. Wenn man aber überzeugt ist, dass man eigentlich stört, muss man sich seine Existenz irgendwie verdienen - mit Lustigkeit oder was sonst akzeptabel erscheint. Natürlich funktioniert das nicht, aber es dauert sehr lange sich das einzugestehen. Denn was ist die Alternative? Ist es möglich, dass man einfach da sein darf, ohne Erlaubnis von den glücklichen Normalen, zu denen man so gern gehören möchte? Das ist unvorstellbar.

Daher schwelt unter der Lustigkeit die Wut, und unter der Wut die Angst. Manchmal auch die Angst vor der eigenen Wut. Ich kann mich an Phasen erinnern, wo ich es nicht fertig brachte, auch nur laut zu sprechen, geschweige denn zu schreien. Es war mir physisch unmöglich. Ich war überzeugt, nie wütend oder ärgerlich zu sein. Und ich habe damals eine Menge Freundschaften im Keim erstickt, weil ich mir außer Mitleid keinen Grund für Freundlichkeit vorstellen konnte. Dicke sind Spezialisten für passive Aggressivität. Sie können schlecht nein sagen und sich nicht gut abgrenzen. Gemäß dem Ausspruch von Groucho Marx, er wolle auf keinen Fall Mitglied in einem Club sein, der Leute wie ihn als Mitglied akzeptiert.

Nun habe ich ja diesen Blog auch angefangen, um mir selbst besser auf die Spur zu kommen, um der Scham ein Ende zu machen und meine eigene Entwicklung zu kommentieren. Es fällt mir auf, dass ich immer noch bestimmte Themen witzig verpacke, um es mir und meinen ca. fünf Lesern leichter zu machen. Wer will schon dauernd über Trauer und Schmerz lesen? Und das nicht mal literarisch wertvoll. Und damit komme ich wieder auf die weise Geneen Roth zurück. Wann immer ich etwas von ihr lese oder höre, kann ich aus vollem Herzen zustimmen. Leider ist es mit Verstehen und Überzeugt-Sein verblüffenderweise doch nicht getan! (Ich kanns nicht lassen - Humor gehört nun mal zu mir.) 

Geneen ist in ihrer Arbeit immer spiritueller geworden und vertritt inzwischen die Überzeugung, dass das Essen bzw. wie wir Ess-Süchtigen damit umgehen, nicht das Problem ist, sondern lange Zeit die Lösung war. Und um dies zu verändern, sei nichts weiter nötig als unsere Gefühle zu fühlen - viele von uns würden sagen: auszuhalten. Was ja nichts anderes bedeutet, als sich dem Leben selbst anzuvertrauen.

Das ist eben doch nochmal eine ganz andere Herausforderung. Heute habe ich vorsichtig ausprobiert, wie das gehen könnte. Seit Monaten plagt mich eine vorwitzige Bandscheibe, und ich muss wahrscheinlich operiert werden. Zudem bin ich gerade mal wieder gekündigt worden. Und das erinnert mich an eine Zeit vor 15 Jahren. Damals habe ich innerhalb einer einzigen Woche meinen Job, meine Bandscheibe und meine Mutter verloren. Nun quäle ich mich mit der Vorstellung, dass jetzt jeden Moment mein Vater sterben wird, weil alles andere auch genauso ist wie damals. 

Dazu kommt, dass ich als Dauer-Single sowieso mit einem sehr bangen Gefühl ans Krankenhaus denke. Da gibt es wieder jede Menge Anlässe zum Schämen. Wenn ich keinen Besuch bekomme, wenn niemand mich abholt, wenn ich keinen nächsten Angehörigen angeben kann und so weiter und so fort. You get the drift. Hoffentlich versinke ich nicht in einem ekligen Sumpf von Selbstmitleid. Selbstmitgefühl ist allerdings in Ordnung. 

An diesem Sonntag habe ich entgegen dem ersten Impuls, mich um jeden Preis abzulenken, einen Spaziergang gemacht und meine Gefühle zumindest nicht abgewehrt. Ich habe mir erlaubt, traurig und ängstlich zu sein in der Gewissheit, dass ich davon nicht sterben werde. Und mit der Erfahrung, dass auch schlimme Gefühle nicht ewig anhalten. Das muss man aber erstmal glauben. Lange Zeit konnte ich mir das gar nicht vorstellen. Ohne Hilfe von klugen und einfühlsamen Therapeuten und nicht zu vergessen: knallharten Mitpatienten wäre ich nicht bis hierher gekommen. Wahrscheinlich wäre ich gar nicht mehr da. Andererseits gab es immer einen kleinen Funken Lebensfreude, der einfach keine Ruhe geben wollte, wenn ich mich nur noch nach Ruhe gesehnt habe (Friedhofsruhe). Dem und meiner Neugier bin ich sehr dankbar. Und stelle fest, dass die ja zu mir gehören. Soll ich mir womöglich selbst dankbar sein?

Der zweite Vorschlag von Geneen Roth ist, sich an einfache Essensregeln zu halten. 

Die Kernregeln: Iss, wenn Du Hunger hast. Iss, worauf Dein Körper gerade Lust hat. Und hör auf zu essen, wenn Du satt bist. Das sind die, die ich seit einigen Jahren befolge. Es gibt einige mehr, die ich noch nicht schaffe. Essen ohne Ablenkung zum Beispiel. 

Dennoch: ich denke daran, wie mein Leben früher aussah. Obwohl ich die Bücher von Geneen Roth, Susie Orbach und anderen schon kannte, gab es fast nur verbotenes Essen für mich. Jede neue Diät versprach Erlösung. In meiner Phantasie wurde ich nach ein paar Monaten Diät dünn und glücklich, während ich in der Wirklichkeit die Wochenenden einsam mit Büchern und pfundweise Süßigkeiten auf meiner Couch verbrachte. In einem Winkel meines Selbst ahnte ich, dass das nicht der Weg ins Glück sein konnte. Aber wie sehr viele, die sich endlich mit den Schrecken befassen, die unter der Speckschicht verborgen sind, hatte ich Angst, dass ich nicht mehr aufhören würde zu fressen, wenn alles erlaubt wäre. Wie konnte ich denn diesem verhassten Körper vertrauen?  

Inzwischen habe ich erfahren, das es tatsächlich möglich ist. Dabei schwindet auch der Hass von selbst. Ich bekomme Lust auf Obst, wenn ich ein paar Tage keins gegessen habe. Ich kann Packungen mit Keksen als Vorrat haben und muss nicht sofort alle auf einmal vertilgen. Es gibt kein verbotenes Essen mehr - außer Schokolade. Die betrachte ich wie Zigaretten. Ich habe einfach damit aufgehört. Ich habe seit Jahren nicht zugenommen, sondern allmählich Gewicht verloren. Wobei mich das gar nicht mehr besonders beschäftigt.

Das Leben ist zu schön und auch zu kurz, um dauernd übers Essen nachzudenken.













Samstag, 22. März 2014

You love me - you really love me!

Nachdem ich seit einiger Zeit wieder in einem sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis stehe - diesen Ausdruck habe ich beim Umgang mit diversen Arbeitsamt-Mitarbeitern gelernt und leider verinnerlicht - habe ich ja auch wieder Anspruch auf "richtigen" Urlaub. Und nicht nur freie Zeit, die es irgendwie zu strukturieren gilt. 

Das erste Glück: ich konnte das erste Mal seit langer Zeit mit Brückentagen jonglieren und ein nettes Stück Zeit am Stück frei nehmen, ohne zu viele Urlaubstage dafür zu verbraten.

Das zweite Glück: ich habe ein paar Freunde in Berlin, und die haben diverse Übernachtungsmöglichkeiten. Denn obwohl ich arbeite, kann ich mir keinen Luxus leisten. Ich habe ganz bewusst einen Halbtagsjob gesucht und gefunden, und hier in der Großstadt geht die Hälfte meines Gehalts für Miete drauf. Aber im Lauf der Jahre bin ich recht geschickt darin geworden, aus wenig das Beste zu machen. Manchmal meckere ich, aber meistens macht es Spaß.

Ein Kurztrip nach Berlin bot sich also an. Zwei liebe Freunde haben Couch bzw. Gästezimmer angeboten und ich darauf hin eine Rückfahrkarte zum Sparpreis gebucht. Für die Hinfahrt werde ich mich auf meine guten Sterne und die Mitfahrzentrale verlassen. Die Fahrt von der letzten Documenta zurück mit einem jungen Bundeswehroffizier habe ich noch in guter Erinnerung. Auf meinen schüchternen Versuch von Small Talk mit der Frage, wie lange die Fahrgemeinschaft denn schon unterwegs gewesen sei, bis ich in Kassel zustieg, bekam ich zur Antwort: "Abfahrt heute Morgen um nullachthundert. Bisher keine Probleme." Damit das so blieb, hielt ich fortan den Mund. Nicht dass ich falsch verstanden werde: ich empfand das als angenehm. Viel schlimmer sind Leute, die neben der Gebühr auch noch bespaßt werden wollen oder umgekehrt.

Jedenfalls begann ich mich auf meinen Urlaub zu freuen. Aus einer kleinen Ecke meines Herzens meldete sich ein Stimmchen mit den Worten: Aber Du wolltest doch dieses Jahr endlich mal wieder ans Meer! Stimmt, aber das ist einfach nicht drin, antwortete ich. In letzter Zeit habe ich tatsächlich eine große Sehnsucht nach Ruhe und Weite. Und meine Sehnsuchts-Orte liegen schon immer eher im Norden als im Süden. 

Könnte an meinen Vorfahren liegen. Mein Großvater mütterlicherseits fuhr als junger Mann zur See, wie man damals sagte. Ein entfernter Onkel war Kapitänleutnant bei der Handelsmarine. Ein Cousin machte seine Ausbildung auf der Gorch Fock. Als das Schiff aus Australien wieder heimkam, war das Kieler Lokalfernsehen dabei, und man konnte meine kleine Cousine auf ihn zu rennen sehen und hören, wie sie rief: Dieter, hast Du mir'n Kolabär mitgebracht? 

Ich bin eine überzeugte Stadtmaus, die in letzter Zeit wankelmütig wird und vom Landleben träumt.

Und nun Tusch: heute habe ich mit einer Freundin telefoniert und ihr von meinem Kurzurlaub erzählt. Zuerst haben wir festgestellt, dass wir gleichzeitig in Berlin sein werden und geplant, uns trotz Terminstress ihrerseits dort wenigstens auf einen Kaffee zu treffen. Dann erfuhr ich, dass sie mit ihrer kleinen Familie eigentlich ein Häuschen auf Rügen gebucht hatte, was sie nun nicht die volle Zeit nutzen konnten. Wegen des Termins in Berlin. Wir redeten noch ein bisschen hin und her und plötzlich fragte sie mich, ob ich nicht Lust hätte auf ein paar Tage Rügen? JAAA! Gesagt habe ich: Nein, kann ich sicher nicht, weil die Fahrt zu teuer und so weiter und so fort. 

Dann hieß es für mich erstmal die üblichen Samstagsdinge abzuarbeiten - Bücherei, Markt, Supermarkt. Als ich heimkam, schaute ich nur mal so - praktisch nur mit einem halben Auge - nach Fahrpreisen. Gar nicht sooo teuer. Dann rief mein Vater an. Ich erzählte ihm von Rügen und - nächster Tusch: mein Vater schenkt mir ein bisschen Geld für den Urlaub. 

Ich rief sofort nochmal meine Freundin an und reservierte das Häuschen. Großer Jubel auf allen Seiten.

Ich bin so überwältigt, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll! Ich danke meinen Eltern, meiner Freundin Nadine, Michael, Roy, Frank, Georg, dem Schicksal, meinem Publikum, dass immer an mich geglaubt hat.......










Freitag, 21. März 2014

Instant Happiness II


  • Walk briskly around the block or in the park for ten minutes. You are allowed to walk longer than that if necessary.
  • Stand straight, spread your arms wide and shout: "I'm so unhappy!" If that doesn't put at least a little smile on your face, further measures are advised.
  • Look up at the sky for a while and take a few deep breaths. Now ask yourself if it's really so important that the stupid neighbor has given you a funny look yet again? (Maybe she's not even stupid)
  • Pay someone a compliment. Make sure it is an honest compliment and if you feel brave, pick somebody you do not know, maybe someone you pass in the street. Hint: Before you go ahead make sure that the receiver of your compliment has not plugged his ears with his or her I-Pod. Otherwise, the whole undertaking might backfire. You might end up in a similar situation to explaining a joke over and over again. In the best case you might find yourself involved in a friendly chat with a person who already likes you.
  • Bounce around a bit on a trampoline. Small trampolines do not cost the earth, and the bouncing or whatever you like to do even counts as workout. 
  • Flirt with a baby. Do not take it personally when it starts screaming at the sight of your face. Navigate to the next baby.
  • Watch any video at www.wimp.com. I know that doesn't make the world a better place but it may remind you that it's also not as bad as it appears to you at this moment.

Of course I'm not superstitious - that's supposed to be bad luck - but I like magic numbers. Therefore, the list consists of seven and not the usual ten items.

I'm looking forward to your feedback.

Mittwoch, 19. März 2014

Gehirn-Jogging

Heute war hier Tag des Volkssports - für Nicht-Frankfurter: Streik des ÖPNV. Kein Bus, keine U-Bahn, keine Straßenbahn bewegte sich, dafür aber Trüppchen und auch größere Zusammenrottungen von Fußgängern. Fußwanderern müsste ich wohl eher sagen. Morgens konnte ich vom Fenster aus beobachten, wie aus den umliegenden Häusern sich Menschen mit Sack und Pack beherzt auf den Weg zur Arbeit machten. Vor einigen Jahren, als ich noch in der Innenstadt gearbeitet habe, gab es schon mal solch einen Rundum-Streik. Da hab' ich es einfach per Anhalter versucht, und das hat unerwartet gut geklappt. Ich hatte gerade erst den Daumen 'raus gehalten, als schon eine Frau in einem Mittelklassewagen an- und mir freundlich lächelnd die Tür aufhielt. Da wir zufällig auch noch in ähnlichen Bereichen tätig waren, verging die Zeit bei einer witzigen Fachsimpelei trotz Stau wie im Flug. 

Diesmal habe ich das Glück, dass der Weg von Tür zu Tür zwischen Wohnung und Arbeitsplatz ein sehr angenehmer ist, den ich bei genug Zeit und schönem Wetter sowieso gern laufe. Dauert bei gemütlichem Tempo ungefähr eine Dreiviertelstunde. So hatte ich gleich noch vor der Arbeit gesunde Bewegung und gute Laune.

Heute war aber nicht nur Tag des Sports, sondern auch der Geistesverwirrung, jedenfalls bei mir.  

Ich teile das Büro mit meiner britischen Kollegin, die neben anderen Vorzügen mit extra-dry Humor ausgestattet ist. Und obwohl wir emsig wie die Bienchen bei der Arbeit sind, gelingt es uns eigentlich immer, uns auch noch über Gott und die Welt auszutauschen. Frauen und Multitasking - Ihr wisst schon. Allerdings - wie man inzwischen ja auch gelernt hat - Multitasking funktioniert nicht wirklich bzw. führt dazu, dass man nichts richtig konzentriert tut.

Heute ging das ungefähr so:

"Gestern habe ich bei ZDFneo einen Krimi gesehen. Die Heldin kannte ich aus einer Buchreihe. Sie heißt Vera Stanhope. Die finde ich toll - schon in den Büchern wird sie als struppig, dick und meistens schlecht gelaunt geschildert. Tut und sagt, was sie will, wird aber trotzdem respektiert und sogar gemocht. Naja, und die Stories sind auch spannend. Und weißt Du, von wem sie gespielt wird? Brenda Blethyn!!! Die sehe ich auch schon ewig gern. Ist natürlich höchstens halb so dick und unattraktiv wie die Bücher-Vera. Egal, von jetzt an guck' ich die Serie auf ZDFneo!"

"Oh ja, ZDFneo ist echt gut. Gestern habe ich herumgezappt und was soll ich Dir sagen: Die bringen die Vera-Serie! Du wirst die nicht kennen, aber in England gibt's die schon ewig. Das ist mit so 'ner exzentrischen dicken Detektivin, und gespielt wird sie von...."

"Du hörst mir nicht zu! Heul! Was hab' ich grad' erzählt? Brenda Blethyn? Vera Stanhope? Unglaublich!!!"

"Oh dear, I'm sooo sorry! You know I love you anyway." Und so weiter bis zu hysterischem Gekicher. Über Vera und Brenda waren wir uns natürlich einig.

Und nun zur geistigen Verwirrung zweitem Teil: Dafür komme ich - was für eine wunderbare Überleitung - wieder auf mein Eingangsthema zurück: den Streik.

Ich gehe aus dem Büro und weiß doch eigentlich, dass heute weder U-Bahn noch Bus fährt - meine beiden Optionen für den Heimweg. Ich spaziere die Straße entlang, sehe in ein paar Schaufenster, kaufe ein paar Sachen am Obststand und fahre dann die Rolltreppe zur U-Bahn hinunter. Finde es angenehm, dass heute mal kein Akkordeonspieler dort sitzt und immer dieselben fünf Töne spielt, und wundere mich dann, dass ich die einzige Person auf der Rolltreppe bin. Dann kehre ich leicht verschämt um und muss über mich selbst lächeln. 

Ich fühle mich ein bisschen wie die Katze meiner Schwester, wenn wir sie bei einem Missgeschick ertappt hatten. Sie tat dann immer so, als sei gar nichts gewesen und machte einfach weiter. Das mache ich auch - ich schlendere also weiter die Straße herunter, schaue nach ein paar Minuten auf die Uhr und denke: Oh super, dann erwische ich ja den Bus! Im selben Moment staune ich darüber, was für ein Gewohnheitstier sogar mein Hirn ist. Ich erinnere es und mich nochmal daran, dass heute kein Bus fährt.

Weiter geht's. Und an der nächsten Ecke biege ich zur Bushaltestelle ab! 

Morgen wird nicht mehr gestreikt. Bis dahin hat aber vielleicht mein Hirn den Stoff von heute gelernt, und ich ziehe mir bequeme Schuhe an und laufe los zum Büro.

Was gar keine schlechte Sache wäre. 












Dienstag, 25. Februar 2014

Rückenschule Teil 2

(Was bisher geschah:

Von der Geschäftsreise mit Horrorschmerzen nach Hause gekommen, erfährt sie, dass ihre Mutter in ihrer Abwesenheit gestorben ist. Noch ehe sie das richtig verstanden hat, liegt sie in neurochirurgischen Abteilung des Krankenhauses, das nur fünf Minuten von der elterlichen Wohnung entfernt ist.)

In der Klinik überlässt sie sich der freundlichen Fürsorge der Ärzte und Helfer. Sie hat absolut keine Angst vor der Operation und lässt die ganze Prozedur bis zur Anästhesie mit distanziertem Interesse über sich ergehen. Gleich nach dem Aufwachen geht sie untergehakt mit einem Pfleger den Gang entlang. Der ermuntert sie mit Charme und schönen Worten: Ja, sehr gut! Königliche Haltung, genau das will ich sehen. Sie schreiten majestätisch den Flur auf und ab und sie genießt, nach langer Zeit endlich ohne Schmerzen zu sein.

Sie ist gerührt über die vielen Besucher. Sie redet sich ein, es mache ihr nichts aus, dass Vater und Schwester nicht kommen. Vom Fenster ihres Krankenzimmers kann sie den Häuserblock sehen, in dem sie aufgewachsen ist, und wo ihr Vater nun allein wohnt. So richtig hat sie noch nicht verstanden, dass ihre Mutter nie mehr dorthin zurückkehren wird.

Deshalb fragt sie zwei Tage nach der Operation ihre Ärztin, ob sie zum Friedhof fahren darf. Trauerfeier und Begräbnis haben ohne sie stattgefunden, und sie muss dort hin, um zu sehen und zu begreifen. Das Gesicht der jungen Ärztin wird beim Zuhören plötzlich ganz weich: Gehen Sie nur. Ich sage im Schwesternzimmer, dass Sie einen kurzen Spaziergang machen.

Sie fährt mit dem Bus zum Friedhof und kauft im Blumengeschäft vor dem Eingang eine einzelne Rose. Dann spaziert sie langsam hinein und geht automatisch den richtigen Weg zum Familien-Urnengrab. Sie wundert sich selbst, dass sie nach so langer Zeit den Weg noch weiß. Sie kommt sehr selten hierher - nie hat sie das Gefühl gehabt, dass ihre Großeltern irgendwas mit diesem Ort zu tun haben. An ihren Großvater erinnert sie sich nur noch in einzelnen Bildern aus der frühen Kindheit, aber an ihrer Großmutter hat sie sehr gehangen. Sie hat zumindest versucht, die Kälte der Mutter etwas auszugleichen. 

Dann steht sie vor dem frischen Grab. Es ist überhäuft mit Kränzen und Gestecken, sogar ihre Kolleginnen haben Blumen geschickt. Ihr eigenes Gesteck ist auch da - ohne den Anruf bei der Blumenhandlung hätte sie nicht einmal Tag und Uhrzeit der Beerdigung gewusst. Unvermittelt sagt sie: So viele schöne Blumen - das hätte Dir gefallen, Mutti! Die mitgebrachte Rose will sie nicht einfach auf das Grab fallen lassen, also geht sie in die Hocke und legt die Blume behutsam nieder. Als sie sich wieder aufrichten will, geht es nicht. Ihr war einfach nicht klar, dass sie so bald nach der Operation noch geschwächt ist.

Da hockt sie nun vor dem Grab ihrer Mutter, auf dem nassen Boden, an einem grauen feuchten Herbsttag, keine Menschenseele in der Nähe (außer, die Seele ihrer Mutter wäre noch hier?). Sie überlegt. Was kann sie tun? Um Hilfe rufen wird sie auf keinen Fall. Langsam muss sie grinsen, dann lachen, und stellt sich vor, ihre Mutter lache mit ihr. 

Sie nimmt all ihre Kraft zusammen, konzentriert sich und stemmt sich hoch. Dann geht sie zur Bushaltestelle, fährt zurück ins Krankenhaus und sinkt erleichtert in ihr Bett. In dieser Nacht schläft sie gut.






Montag, 10. Februar 2014

Erlebnisse eines Homo consumensis (vulgo und in diesem Fall: Kundin)

1.Vor ungefähr dreißig (Was? Ach Du liebe Güte!) Jahren
Kundin geht mit Freundin die erste Brille ihres Lebens aussuchen. Kundin ist schon mitgenommen genug von der Neuigkeit, dass sie eine Brille braucht. Schüchtern probiert sie ein paar Gestelle an, aber keines passt wirklich.
Optiker sagt: "Sie haben aber auch ein sehr breites Gesicht!"
Kundin:  (Will in Tränen ausbrechen und sich für ihr breites Gesicht entschuldigen.)
Freundin: "Komm, wir gehen!"
Kundin und Freundin ärgern sich beim Kaffee über den Optiker und planen, in den Laden zurück zu gehen, alle Brillen vom zu Regal fegen und wortlos wieder hinaus zu schreiten. Machen sie nicht, aber die Vorstellung ist heilsam.

2. Kundin geht in ein mittelpreisiges Modegeschäft, findet was Nettes, möchte aber weiter in den ersten Stock, und sich noch ein bisschen umsehen. Sie nimmt den Bügel vom Ständer und will das Fräulein Verkäufer* fragen, ob sie das Kleidungsstück mitnehmen und oben bezahlen darf.

Kundin: (öffnet den Mund)
Fräulein Verkäufer (schrill): "NURNOCHWASDAHÄNGT!"
Kundin: "Ich wollte eigentlich..."
Kundin (denkt): Was für eine Fehlbesetzung. Und wie so viele ihrer Art hat sie ein unsichtbares Schild auf der Brust, auf dem steht "Ich bin sowieso cooler als all Ihr doofen Kundinnen zusammen". Leider klaffen Selbst- und Fremdwahrnehmung eklatant auseinander. 
Kundin nimmt Klamotte, geht in den ersten Stock, wo sie von einer freundlichen und zuvorkommenden Verkäuferin bedient wird. "Na", denkt Kundin, "geht doch."

3. Kundin möchte in ein wirklich gutes Kleidungsstück investieren. Dazu rät jede zweite Frauenzeitschrift ("...das lohnt sich, denn Sie haben lange etwas davon..."), und Kundin ist in Sachen Kaufräusche durchaus beratungsoffen. Fräulein Verkäufer wiederum hat leider Wichtigeres zu tun als Beraten und Verkaufen: Pullover auseinander- und wieder zusammenfalten, Bügel anderen Kundinnen aus der Hand reißen und ordentlich wieder aufhängen und anderen Fräuleins Verkäufer von schrecklichen Erlebnissen mit zudringlichen Kundinnen erzählen. Kundin versucht es mit Anschleichen und plötzlich Zuschlagen, gibt erfolglos auf. Abends auf der Couch erlegt Kundin ein Designer-Jäckchen (nur einmal getragen!) im Ebay-Jagdrevier - für 12 Euro!

4. Kundin betritt ein Haushaltswarengeschäft. Eine neue Knoblauchpresse wird gebraucht. Kundin stellt sich eine vor, die mit kleinen Metalldornen den Knoblauch durch passende Löcher presst. Kürzlich hat sie eine Abbildung gesehen, wo die Dornen auf zwei Seiten angebracht sind, so dass man durch Umdrehen des Geräts die nicht verwendbaren Reste aus den Löchern direkt in den Biomüllsack drücken kann.
Das Schöne an solch alten Haushaltswarengeschäften ist, dass Kundin tatsächlich von Fräulein, manchmal auch Herrn oder Frau Verkäufer wahrgenommen und bedient wird. So auch hier. Fräulein Verkäufer nähert sich freundlich und einsatzbereit. Leider wird Kundin in diesem Moment von akuten Wortfindungsstörungen überkommen, so dass sie dem Fräulein Verkäufer erzählt, sie suche eine Knoblauchpresse, die sich sozusagen selbst reinigt.
Fräulein Verkäufer: "Selbstreinigung gibts nur bei Tieren!"
Kundin: (schweigt verblüfft)
Kauft eine herkömmliche Knoblauchpresse und verlässt - tief in beinah schon philosophisch zu nennende Gedanken versunken - das Geschäft.

Sie lenkt ihre Schritte zur Parfümerie in der Nachbarschaft, denn die hat etwas im Angebot, woran die meisten Menschen ein ganzes Leben arbeiten:

"Harmonisierung von Geist und Körper in 30 Minuten! Nur 40 Euro."

Als Kundin braucht man die Fähigkeit, immer wieder von Neuem an das Gute zu glauben.

* in Erinnerung an Daphne Zahn (danke an Herrn Blue www.horst-blue.de und Frau Breisch )

Samstag, 8. Februar 2014

In memoriam

Der Anruf kommt kurz nach zehn an einem Samstagabend - ich sitze gerade mit einem Glas Wein vor irgendeinem TV-Krimi. Mein Vater sagt in demselben abrupten Tonfall, in dem er mir vor ein paar Jahren den Tod meiner Mutter mitgeteilt hat: "Die Ute ist im Krankenhaus auf der Intensivstation - ich mach mich jetzt auf den Weg." Ich begreife nicht gleich und bitte ihn, mich doch morgen anzurufen und zu erzählen, was es Neues gibt. Ich lege den Hörer auf. Eine Art Alarm fährt plötzlich durch meinen ganzen Körper. Mit flattrigen Händen suche ich die Nummer der Klinik heraus und lasse mich mit der Intensivstation verbinden. Diesmal fragt niemand, ob ich denn wirklich eine Verwandte sei und das Recht auf Auskunft habe. Eine nüchterne, nicht unfreundliche Stimme sagt: "Ja, Ihre Schwester wurde als Notfall eingeliefert. Sie liegt im Koma und wird wohl die Nacht nicht überleben."

Ich greife meinen Mantel, stopfe Zigaretten, Geld und Schlüsselbund in die Handtasche und eile aus dem Haus. Ich renne den ganzen Weg zur Bahn. Mit U- und S-Bahn brauche ich mindestens eine Stunde bis zu ihr. In der U-Bahn sind kleine Gruppen von Leuten unterwegs ins Nachtleben, während ich mit versteinertem Gesicht da sitze und unglaublich empört bin, dass alle einfach so weitermachen, wo doch meine Schwester stirbt.

Im S-Bahnhof angekommen merke ich verzweifelt, dass ich gerade den Bus verpasst habe. Während es in meinem Kopf hämmert "Ich komm' zu spät - ich komm' zu spät - zu spät - zu spät", reiße ich die Beifahrertür des nächsten Taxis auf und rufe: "Krankenhaus, Notaufnahme!". Es sind nur ein paar Minuten, und der Fahrer fährt am Haupteingang vorbei. Er weiß genau, wo er hin muss, aber ich fange fast einen Streit an, weil ich glaube, dass er falsch fährt und ich wertvolle Zeit verliere. Ich werfe ihm einen Geldschein hin und laufe durch Dunkelheit und Regen auf den Eingang zu. Beinahe pralle ich zurück vor dem plötzlichen kalten Neonlicht. Ich finde den Aufzug und drücke den Knopf für die Station. Der Aufzug fährt langsam, als wolle er mich verspotten. Andere steigen zu und wieder aus. Ich hasse sie aus tiefstem Herzen, weil sie mich aufhalten. 

Die Tür zur Station ist verschlossen. Ich klingele und warte. Inzwischen bin ich völlig außer mir, und dabei habe ich hysterische Frauen immer verachtet. Aus einer anderen Tür kommt ein Arzt und fragt, ob er mir helfen könne. "Meine Schwester liegt im Sterben, und niemand macht mir auf", schluchze ich. Er benutzt kurz sein Handy, und nach einer Minute öffnet sich die Tür. Eine Schwester fragt, wer ich bin und führt mich in das Zimmer. Es liegt im Halbdunkel. Mein Blick erfasst das Bett, auf einem Stuhl etwas entfernt an der einen Wand sitzt still mein Vater, und mein Schwager am gegenüberliegenden Bettrand auf dem zweiten Stuhl. Die Schwester holt für mich einen weiteren Stuhl, und ich setze mich meinem Schwager gegenüber. Seit Betreten des Zimmers bin ich völlig ruhig. 

Ich nehme die Hand meiner Schwester und rede, was mir gerade so einfällt. Ich erzähle ihr, dass die Quälerei jetzt vorbei ist und sie gehen kann, dass unsere Mutter auf sie wartet und die Oma, die sie so vermisst hat, dass sie auf uns keine Rücksicht nehmen muss - wir kommen schon klar. Dass wir uns wiedersehen, dass ich sie liebhabe, und was man alles sagt in so einem Moment. Ich wusste vorher nicht, dass es so sein wird. Ich wundere mich, was alles aus mir herausströmt. Nichts habe ich mir vorher überlegt. Es passiert einfach. 

Irgendwann nehme ich die Umgebung wahr. Die Maschine zeichnet nur noch die immer schwacher werdenden "Vitalfunktionen" - so nennt man das wohl - meiner Schwester auf. Ich finde es verrückt, dass ich sogar jetzt auf die richtige Bezeichnung aller Dinge achte. Die Herzschläge kommen unregelmäßig und setzen immer wieder für eine kleine Ewigkeit aus. Der Atem geht schwer, und auch hier gibt es sekundenlange Pausen. Es wäre schön, wenn ich jetzt einfach verrückt werden könnte, aber das geht nicht. Ich muss meine kleine Schwester verabschieden und stark sein. 

Nach einiger Zeit deutet mein Vater etwas ängstlich an, dass er jetzt nach Hause gehen möchte. Ich bin schockiert und schäme mich für ihn, weil er nicht einmal dies hier hinkriegt. Aber ich sage: "Ja, geh' ruhig. Du musst Dich ausruhen. Ich komme nach, wenn alles..." und dann weiß ich nicht, wie der Satz weitergehen soll. 

Mein Schwager will meinen Vater nach Hause fahren, aber er lehnt ab - er meint, der Spaziergang werde ihm gut tun. Wir bleiben ohne ihn zurück. Seit ein paar Stunden bin ich nun hier in dieser halbdunklen Welt mit seltsam fremden Geräuschen und Gebräuchen. Ich nehme mir eine Pause. Ich fahre mit dem Aufzug runter und stelle mich mit einer Zigarette vor die Tür. Außer einer Art Betäubung fühle ich nichts. Ich überlege, was ich fühlen müsste. Rauche hastig, und es treibt mich dann schnell wieder hinein.

Ich setze mich auf den Bettrand und streichele meiner Schwester die Wangen und über die Glatze. Seit der letzten Chemotherapie sieht sie aus wie ein kleiner Buddha, weil ihr ganzer Kopf angeschwollen ist. Sie sieht sich kaum noch ähnlich. Ich fange wieder mit meinem Singsang an und frage mich, ob ich das für sie oder für mich mache. Mein Blick geht immer wieder zum Schirm mit den farbigen Kurven. Die Nachtschwester, die ab und zu nach uns schaut, legt mir sanft die Hand auf die Schulter und sagt leise: "Sehen Sie da nicht hin"; dabei dreht sie den Bildschirm zur Wand. Ein gleichmütiger Teil in meinem Inneren registriert, wie freundlich hier alle zu uns sind. Auch das hatte ich mir nicht vorgestellt. Ich hatte mir gar nichts vorgestellt, im Gegenteil, ich wollte mich mit diesem unausweichlichen Moment einfach nicht beschäftigen in den drei Jahren nach der Diagnose. 

Ich weiß noch, wie ich nach dem ersten Googeln der Stichworte ganz naiv dachte: "Kleinzellig - also klein ist jedenfalls besser als groß. Das ist doch bestimmt was Gutes." Damals wusste ich absolut nichts. Aber das sollte sich bald ändern. 

Ich kehre in das Zimmer zurück. Die Atemzüge klingen jetzt, als ob ein sehr erschöpftes Wesen mit letzter Kraft versucht, doch noch irgendwie ans Ziel zu kommen. Aber was ist das Ziel? Es sollte doch leichter werden. Ich rede ihr weiter ruhig zu. So sitzen wir noch eine Weile.

Dann spüre und höre ich, dass es jetzt nicht mehr lange dauert. Ich habe schon mal über den letzten Atemzug gelesen, natürlich habe ich das. Und ich habe Sterbeszenen in Filmen gesehen, die mich zu Tränen gerührt haben. Das alles hat nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Kein Schauspieler kriegt dieses furchtbare Geräusch hin, kein Maskenbildner diese gelbe Hautfarbe. In einer Sekunde war meine Schwester noch hier - nun nicht mehr. Was da im Bett liegt, trägt keine Spur von ihr. 

Ich sitze noch eine Weile da, dann gehe ich in den Flur und sacke an der Wand zusammen. Und warte auf die Trauer oder wenigstens die Wut. Die Schwester bringt mir einen Becher mit Tee. 

Die Trauer kam erst sehr viel später. Noch lange habe ich meine Schwester ständig irgendwo gesehen. Noch lange wollte ich sie schnell mal anrufen oder dachte, ich müsse sie im Krankenhaus besuchen. Nicht mal die Beerdigung hat daran etwas geändert.

Ach, Schwesterchen - heute wäre Dein Geburtstag, und dass ich an Deinem Sterbebett saß, ist neun Jahre her. Manchmal denke ich gar nicht viel an Dich; manchmal erinnere ich mich mit einem Lächeln; oft erzähle ich Dir was Lustiges, und manchmal zerreißt es mir das Herz vor Vermissen. 

Und heute? Du bist so eine Art guter Geist für mich geworden. Die Trauer hat sich zu der Traurigkeit gesellt, die mich seit jeher begleitet. Die beiden vertragen sich gut, und ich freunde mich langsam mit ihnen an.











Freitag, 22. November 2013

Immer so nett!

Ich habe immer öfter Lust mich ungehörig zu benehmen. Ich meine damit, dass ich in bestimmten Situationen etwas Unerwartetes äußern oder tun möchte. Mein großes Vorbild ist Martina Hill http://www.martinahill.com/#2. Wobei die das ja nicht in echt macht. Sondern beruflich. Aber sehr inspirierend, das muss ich sagen. Wenn sie Kurse anböte - ich würde sofort buchen.

Gerade vorhin im Modeladen war so eine Gelegenheit: Ich war mit einem Shirt in der Hand zu der Dame hinterm Tresen gegangen und hatte gefragt, ob sie mir das Teil bis morgen zurücklegen würde. Die Antwort: "Nee, sowas tauschen wir nicht um." Am liebsten hätte ich laut gebellt oder etwas in der Art. Schlau wäre natürlich gewesen, mit einem:  "Ach wie schade, dann muss ich's eben wieder mitnehmen." den Laden energischen Schrittes zu verlassen. Aber schlagfertig bin ich immer erst später.  Ich weiß übrigens, dass das ein Widerspruch ist.

Kürzlich wurde ich in meiner Bankfiliale von einer Auszubildenden bedient, die ihre Unkenntnis durch Outfit-Maßnahmen zu kompensieren gezwungen war. An einem gewissen Punkt unseres Gesprächs hätte ich gern gesagt: "Wen willst Du eigentlich beeindrucken mit Deinen hochgezurrten Brüstchen, Du kleine Gans?!" Ungehörig. Aber ehrlich: wer hat jungen Frauen eingeredet, es sähe cool aus, sich die Brust unters Kinn zu schnallen? Wo bleibt die Würde? Die meisten Menschen müssen sich Würde natürlich erst erarbeiten. Mit 16 habe ich auch die seltsamsten Dinge angezogen und fand mich todschick. Wobei dieses Wort schon damals altmodisch war. Aber meine Patentante hat es oft gebraucht, und die war wirklich oft todschick. In den frühen sechziger Jahren war todschick sein durchaus erstrebenswert für junge unverheiratete Frauen wie meine geliebte Patentante.

Zurück zum Ungehörigen. Der Freund einer Bekannten von mir wäre ebenfalls ein gutes Vorbild: Er hat mal in der Zürcher Straßenbahn einen jungen Mann gebeten, sein Musikbeschallungsgerät etwas leiser zu stellen. Zur Antwort erhielt er ein Gezeter des Inhalts, dass man wohl Musik hören könne, wo und wann und wie laut auch immer man dazu Lust habe. Daraufhin stellte sich der Freund gegenüber diesem jungen Mann auf und sang laut, ruhig und konzentriert ein altes Schweizer Volkslied mit recht vielen Strophen. Vor solchen Menschen habe ich großen Respekt. Ich würde meinen Hut vor ihnen ziehen, wenn ich Hüte trüge. Manche Frauen haben ja ein Hutgesicht. Audrey Hepburn oder etwa Sophia Loren hatten ein Kopftuchgesicht. Ich habe wohl am ehesten ein Burkagesicht. In meiner Gegend haben Burkas eher keine Tradition. Wenn ich zum Beispiel ab morgen nur noch mit Burka das Haus verließe, gäbe es bestimmt Nachfragen. Besonders von meinen Nachbarn. Und ganz besonders von unserem Hausmeister. 

Seit einiger Zeit hängt an meiner Wohnungstür, wo andere Menschen ein Namensschild und / oder einen Spion angebracht haben, ein Foto von Ai Wei Wei. Es ist entstanden, als er endlich aus dem Gefängnis entlassen wurde. Es zeigt ihn, wie er gerade die Tür zu seinem Anwesen vom Innenhof aus schließt. Sein freundliches, erschöpftes Gesicht schaut den Betrachter zwischen der halb geschlossenen Tür und dem Türrahmen an. Für Menschen, die Ai Wei Wei und seine Beziehung zum chinesischen Regime nicht kennen, sieht es so aus, als würde der Mann auf dem Foto unerwarteten, aber nicht unerwünschten Gästen die Tür öffnen. So irreführend kann ein Bild sein. 

Unser Hausmeister kannte Ai Wei Wei nicht. Er fragte mich, ob dieses Bild mit dem freundlichen Mann böse Geister fernhalten solle. Keine schlechte Interpretation. Ich mag unseren Hausmeister.  

Mittwoch, 2. Oktober 2013

Fragen kann man ja mal

Wann wurde eigentlich das schöne und bewährte Wort "brauchen" durch das schnöde "benötigen" ersetzt? Welcher Reporter hat als erster gefragt: "Wie muss ich mir das vorstellen?" Er möge vortreten und sein Urteil empfangen. Der Erfinder von: "Wie fühlt sich das an?" kann sich sofort dazu gesellen. Wieso haben wir keine Gefühle mehr, sondern nur noch Emotionen?

Wann wurde das Wetter zum Event? Früher gab es ein Wetter. Ein älterer Herr verkündete am Vorabend, was wir so ungefähr zu erwarten hatten. Ich kann mich noch an Zeiten erinnern, da malte dieser Herr mit Kreide Sonne, Wolken und Regen auf eine Tafel. Im Rahmen des Fortschritts hantierte er später mit kleinen Pappwolken und -sonnen, die er an die richtigen Stellen auf der Karte heftete. 

Heute fragt ein Mann im hysterischen Tonfall, ob "wir" wohl morgen 25 Grad erreichen. Oder ob "wir" sogar die 30-Grad-Marke knacken! Wer ist eigentlich "wir"? Wir waren ja schon mal Papst - sind wir dann heute der liebe Gott? Aber Moment, für das Wetter ist ja Petrus zuständig. War der nicht der erste Papst? Sind wir dann doch wieder Papst? Ich komm' ganz durcheinander...

Und wer erfindet solche Ungetüme wie "Signalbedingt verzögert sich die Weiterfahrt" oder "Witterungsbedingt kann es zu Fahrplanabweichungen kommen". Der Begriff "Verspätung" ist wahrscheinlich bei Strafe mit einem Tabu belegt. Ich stelle mir vor, wie jemand das Wort eintippen will und darauf der Bildschirm bedrohlich anfängt zu flackern und die Tastatur blockiert. Ins Zimmer stürmt der Vorgesetzte und reisst dem Missetäter sämtliche Ehrenabzeichen herunter - so wie in dieser Westernserie. "Geächtet" hieß die, glaube ich. Da wurde Chuck Connors unehrenhaft aus der Armee geschmissen. Warum, daran kann ich mich gar nicht erinnern. Die signalbedingte Verspätung der Kavallerie könnte zum Beispiel ein Grund gewesen sein. Jedenfalls - unser Mann muss zunächst einen Crashkurs im Sprachgebrauch beim Öffentlichen Personennahverkehr absolvieren. Danach wird er zum Fahrkartenkontrolleur degradiert.

Sie können ihn daran erkennen, dass er nicht nach der Fahrkarte fragt, sondern: "Können Sie einen aktuellen gültigen Beförderungsberechtigungsausweis vorweisen?" Empfohlene Antworten sind: "Immer am  Mann!", "Allzeit bereit!" oder auch "Sir, yes, Sir!" oder so was Ähnliches....

Rückenschule Teil 1

Die Rückenschmerzen sind kaum auszuhalten. Und morgen muss sie geschäftlich nach England. Sie geht vorher noch die Mutter im Krankenhaus besuchen. Die empfängt sie mit den Worten: "Ach, meine Große!" Sie scheint ganz vergnügt, aber sie mag nichts essen. Sie lässt sich mit ein paar Löffelchen Apfelmus füttern. Die Tochter wird von einer Zärtlichkeitswelle überschwemmt. Nach einer Weile verabschiedet sie sich. Sie erwischt den Oberarzt und fragt ihn, ob etwas dagegen spricht, dass sie ein paar Tage verreist. Der Oberarzt erklärt ihr, dass die Mutter sich nicht mehr erholen werde; ihre Konstitution sei zu schwach, und sie werde sterben. Nicht heute oder morgen, aber bald. Und ja: sie könne ruhig wegfahren - in den nächsten Tagen seien keine dramatischen Entwicklungen zu erwarten. Dann macht er ihr noch ein Kompliment dafür, dass sie alles so vernünftig und gelassen aufnimmt. Ihr Vater und ihre Schwester seien da wohl etwas schwierig - ihre Schwester sei direkt hysterisch geworden, wenn er das mal so sagen dürfe. Sie bedankt sich brav. Draußen auf dem Gang muss sie sich anlehnen. Sie rutscht langsam an der Wand herunter, und die Tränen schießen ihr aus den Augen. Wie in Trance fährt sie nach Hause und packt.

Weil Ihre Chefin schon länger andeutet, dass sie Ihr die Rückenschmerzen nicht glaubt, arbeitet sie auf der Messe extra hart. In einer Mischung aus Wut und Trotz schleppt sie Kisten mit Katalogen und richtet mit ihrer Kollegin den Stand ein. Dann nutzt sie jede Gelegenheit herumzulaufen, weil nur so die Schmerzen halbwegs erträglich sind. Abends im Hotelbett denkt sie an ihre Mutter und versucht, im Sitzen ein bisschen zu schlafen. Am zweiten Tag geht nichts mehr. Sie teilt dem Team mit, dass sie an diesem Abend schon nach Hause fliegt, weil sie sonst womöglich hier in einer Klinik landet. Sie überlegt, was eigentlich Bandscheibenvorfall auf Englisch heisst. Irgendwas mit prelaps?

Spätabends in ihrer Wohnung angekommen, hört sie ihre Mailbox ab. Ein paar Anrufe von Freunden, dann die Stimme ihres Vaters: Gestern Nacht ist die Mutti gestorben. Auf Wiederhören. Alles in ihr krümmt sich zusammen. Sie macht sich ganz klein. Dann läuft sie wie ferngesteuert in der Wohnung auf und ab und hört sich selbst ganz verrückt wimmern. Eine Stimme sagt ständig: Oh nein oh nein oh nein, eine andere: Ich war nicht da, ich war nicht da. Dabei kommt sie sich vor, als würde sie eine oft gesehene Filmszene nachspielen. Ich bin ein Klischee, denkt sie: Junge Frau erhält schreckliche Nachricht und dreht durch. Sie wird etwas ruhiger und ruft eine Freundin an. Die sagt: ich bin gleich da. Als sie kommt, gehen sie in die Kneipe gegenüber. Die Freundin verordnet mäßiges Betrinken. Beim Bier erzählt sie die ganze Geschichte: vom letzten Krankenhausbesuch, vom eiskalten Oberarzt, vom geschäftsmäßigen Anruf ihres Vaters. Wie sie den Flug bis kurz vor der Landung im Stehen bei den Stewardessen verbringen durfte. Als sie dabei ankommt, wie die mütterlichen British-Airways-Ladies ihr einen Gin Tonic nach dem anderen brachten, lachen die beiden Tränen. Sie weint noch ein bisschen, dann bringt ihre Freundin sie ins Bett und fährt nach Hause.

Schon am nächsten Tag liegt sie in einem Krankenhausbett. Selig lächelt sie den Infusionsbeutel an, aus dem das Schmerzmittel sie langsam ins Nirwana tropft.







Freitag, 19. Juli 2013

Kinderlandverschickung

Das Kind fährt auf eine Insel. Dem Kind soll etwas Gutes getan werden. Seit einiger Zeit sieht es so blass aus. Es wird immer schmaler und ist weitgehend verstummt. Die Reisevorbereitungen dauern Wochen und werden gewissenhaft durchgeführt. Namensschildchen werden in Kleidungsstücke genäht. Ein Badeanzug wird ausgesucht. Mutter und Großmutter überlegen hin und her, was in den Koffer soll. Alles, wirklich alles, muss auf einer Liste vermerkt werden. Diese Liste kommt in einen Briefumschlag. Zusammen mit anderen wichtigen Papieren wird sie in einem Etui dem Kind um den Hals gehängt.

Dem Kind ist sehr bang. Es wurde nicht gefragt. Es soll sich freuen. 

Als alle zusammen zum Bahnhof fahren, ist es schon dunkel. Der Zug fährt über Nacht, und die vielen Kinder werden auf die Plätze verteilt. Die Großmutter hat dem Kind auf dem Bahnsteig schnell und heimlich ein Geschenk in die Hand gedrückt: ein hübsches kleines Portemonnaie mit einem Fünfmarkstück. Im Abteil ist es gar nicht so schlecht. Die anderen Kinder sind genauso aufgeregt und nicht böse, wie befürchtet. Die Polstersitze werden zu Liegen herausgezogen. Trotz der Aufregung schläft das Kind ein. 

Das Kinderheim liegt nah am Strand. Das Meer ist schrecklich und wunderschön. Gleich am zweiten Tag ertrinkt das Kind beinahe. Die Tanten hatten befohlen, dass alle sich an den Händen fassen und zusammen ins Wasser laufen. Das Kind war brav und lief. Die zwei älteren Kinder, die es an den Händen hielten, zogen es rechtzeitig heraus. 

Ein älteres Mädchen von zu Hause soll sich ein bisschen um das Kind kümmern. Das Mädchen klaut Sachen. Das Kind beobachtet, wie das Mädchen kleine Taschen, die es genommen und geleert hat, am Strand vergräbt. Wenn es was erzählt, wird ihm etwas Schlimmes passieren. Das Kind sagt sowieso nichts.

Das Essen im Heim ist nie genug. Alle haben ständig Hunger. Am schönsten ist, wenn es sonntags Kakao und Kuchen gibt. Das Kind hat zwei Freundinnen gefunden. Sie sind im selben Schlafsaal und haben zusammen Heimweh. Sie sind die drei Jüngsten. Das Kind kann schon ein bisschen schreiben. Es schreibt an den Vater, dass er sie alle drei retten soll. Er soll mit seinem Auto herkommen und sie nach Hause holen. Das Kind kann nicht wissen, dass die Tanten alle Briefe lesen und nur die schönen zur Post geben.

Das Kind liebt das Meer, und auf die Spaziergänge durch die Dünen und an den Strand freut es sich jeden Tag. Die Tanten gehen voran, und wenn sie an einer Stelle mit Nackten vorbeikommen, rufen sie laut und wedeln mit den Händen. Die Kinder müssen dann woanders hingucken. Sie sehen aber trotzdem etwas. Sie kommen sich komisch vor, weil sie angezogen sind. Die Nackten sind einfach nur nackt. 

Ein paar Kinder sammeln eine Riesenmenge kleiner Frösche und legen sie der schlimmsten Tante ins Bett. Das ist ein schöner Abend, als das Kreischen durch die Gänge hallt.

Irgendwann fällt das Klauen auf. Ein Täter wird gesucht. Das Kind kommt in Verdacht. Die Tanten finden das Portemonnaie mit dem Geldstück. Das steht nicht auf der Liste. Das Kind kann nichts erklären. Es wird in ein kleines Zimmer gesperrt und soll nachdenken. Weiter passiert nichts. Die Diebin macht vielsagende Grimassen. Das Kind schweigt.

Am Ende gibt es ein großes Abschiedsfest. Das Kind muss auf der Bühne ein Lied singen und in einer Scharade mitspielen. Alle haben sehr viel Spaß.

Im nächsten Sommer sagt die Mutter, dass das Kind wieder auf die Insel darf. Das Kind fängt an zu weinen. Endlich kann es erzählen, wie es wirklich war.

Die Insel liebt es für immer.